Die Heimat in zwei Ländern
Die Leiterin des Wehrdener Stadtteilprojekts „Nachbarn kommen zusammen“, Sennur Agirbasli, sammelte von Kindesbeinen an viele Erfahrungen sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. Sie engagiert sich für ein Miteinander der Menschen.
VÖLKLINGEN/SAARBRÜCKEN Dr. Sennur Agirbasli setzt sich für Toleranz und ein friedliches Miteinander ein. Im Völklinger Stadtteil Wehrden leitet sie das Stadtteilprojekt „Nachbarn kommen zusammen“. Außerdem ist sie Co-Vorsitzende des Vereins „Ramesch – Forum für interkulturelle Begegnung“. Geboren wurde die Juristin in Frankfurt am Main, heute lebt sie in Saarbrücken. „Ich fühle mich hier wohl“, betont die 55-Jährige. Wohl fühlt sie sich auch in der Türkei. Viele Jahre lebte sie in der Küstenstadt Izmir. Mehrmals verlegte Agirbasli ihren Lebensmittelpunkt von Deutschland in die Türkei – und wieder zurück.
In den 60er Jahren zogen ihre Eltern von Izmir nach Hessen. Ihr Vater arbeitete am Frankfurter Flughafen, ihre Mutter in einer Fabrik. Als die Tochter geboren wurde, fanden die Eltern keinen Betreuungsplatz. Deshalb kehrte das Kind mit drei Monaten zurück in die Türkei. Wie bereits einer ihrer Brüder sollte sie dort bei der Großmutter aufwachsen. „Ich wurde streng erzogen“, erinnert sie sich. Anders als der Bruder musste das Mädchen schon früh im Haushalt helfen, auf der Straße spielen durfte es nicht. Immer wieder gab es deshalb Diskussionen. „Ich möchte wieder zu meiner Mutter“, verkündete die Enkelin schließlich. So kehrte sie mit sieben Jahren nach Frankfurt zurück.
Der erste Eindruck von Deutschland war positiv. Dafür sorgte die Bäckerin, bei der sich die Schülerin jeden Tag eine kleine Stärkung kaufte. Nur einmal hatte sie das Geld vergessen und lief am Geschäft vorbei. „Hallo Kleine, warum kommst du heute nicht rein?“, rief die Verkäuferin. Als sie von dem Missgeschick des Mädchens hörte, schenkte sie der jungen Kundin ein Brötchen. „An ihr freundliches Gesicht erinnere ich mich noch heute“, versichert Sennur Agirbasli.
Zu Hause fühlte sie sich als Kind allerdings einsam, die Eltern kamen erst spät von der Arbeit zurück. Bei den Großeltern in der Türkei hingegen war immer jemand da gewesen. Also ging es wieder zurück in die Türkei. „Meine Großeltern haben mir die anatolische Kultur vermittelt. Deshalb bin ich froh, dass ich in der Türkei aufgewachsen bin“, sagt die Saarbrückerin heute.
Anfang der 1980er Jahre kehrten die Eltern in ihr Heimatland zurück. Für ihre jüngste Tochter stand da schon fest, dass sie Anwältin wird. Sie wollte Armen und Schwachen helfen. So wie es Anwalt Petrocelli in ihrer einstigen Lieblings-Fernsehserie vorgemacht hatte.
Von 1982 bis 1987 studierte sie in Izmir Jura. Danach arbeitete sie neun Jahre als Rechtsanwältin in ihrer eigenen Kanzlei, engagierte sich in der Frauenbewegung und setzte sich für die Menschenrechte ein.
Mit ihrem Geburtsland hatte sie aber noch nicht abgeschlossen: „Ich wollte immer Deutsch lernen“, erinnert sich die Türkin. An der Uni in Bochum belegte sie einen Sprachkurs. Nach ein, zwei Jahren wollte sie zurück in die Türkei, so lange sollten die Ersparnisse reichen. Doch wieder kam es anders als geplant. Denn sie hörte von einem spannenden Aufbaustudiengang am Europainstitut der Universität des Saarlandes.
Dank eines Stipendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung klappte das dann auch. Nach dem Magisterabschluss folgte die Promotion, in ihrer Doktorarbeit beschäftigte sich die Juristin mit dem Diskriminierungsverbot in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Sechs Jahre arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Erfurt – ihren Hauptwohnsitz behielt sie im Saarland. Dort sollte auch ihr 2002 geborener Sohn aufwachsen. In dieser Zeit veröffentlichte sie auch Bücher über die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtsentwicklung in der Türkei.
Später wechselte sie in den sozialen Bereich. 2018 ging sie zur Arbeiterwohlfahrt (AWO), übernahm schließlich in Wehrden die Leitung des neuen Stadtteilprojekts „Nachbarn kommen zusammen“. Von der Frauensportgruppe über Infoveranstaltungen bis zum interkulturellen Kochen: Die Angebote im Stadtteilbüro sind breit gefächert. Genauso wie die Fragen der Quartiersbewohner: Was mache ich, wenn meine muslimische Mutter pflegebedürftig wird? Wer hilft mir, meine Schulden in den Griff zu bekommen? Was steht in dem Behördenbrief? Wie finde ich einen Kindergartenplatz? Die Leiterin des Büros gibt Tipps und vermittelt den Kontakt zu Experten.
Auch im Verein Ramesch engagiert sie sich sozial. „Wir möchte dazu beitragen, dass die unterschiedlichen Kulturen nicht nebeneinander, sondern miteinander leben“, erläutert die Vorsitzende.
In der Pandemie hat sie begonnen, ein Instrument zu lernen: die Daf, eine persische Rahmentrommel. Die Juristin hofft, sich bald auch wieder ihrem zweiten Hobby widmen zu können: Sennur Agirbasli tanzt leidenschaftlich gerne Tango Argentino.