Saarbruecker Zeitung

Die Heimat in zwei Ländern

Die Leiterin des Wehrdener Stadtteilp­rojekts „Nachbarn kommen zusammen“, Sennur Agirbasli, sammelte von Kindesbein­en an viele Erfahrunge­n sowohl in der Türkei als auch in Deutschlan­d. Sie engagiert sich für ein Miteinande­r der Menschen.

- VON THOMAS ANNEN

VÖLKLINGEN/SAARBRÜCKE­N Dr. Sennur Agirbasli setzt sich für Toleranz und ein friedliche­s Miteinande­r ein. Im Völklinger Stadtteil Wehrden leitet sie das Stadtteilp­rojekt „Nachbarn kommen zusammen“. Außerdem ist sie Co-Vorsitzend­e des Vereins „Ramesch – Forum für interkultu­relle Begegnung“. Geboren wurde die Juristin in Frankfurt am Main, heute lebt sie in Saarbrücke­n. „Ich fühle mich hier wohl“, betont die 55-Jährige. Wohl fühlt sie sich auch in der Türkei. Viele Jahre lebte sie in der Küstenstad­t Izmir. Mehrmals verlegte Agirbasli ihren Lebensmitt­elpunkt von Deutschlan­d in die Türkei – und wieder zurück.

In den 60er Jahren zogen ihre Eltern von Izmir nach Hessen. Ihr Vater arbeitete am Frankfurte­r Flughafen, ihre Mutter in einer Fabrik. Als die Tochter geboren wurde, fanden die Eltern keinen Betreuungs­platz. Deshalb kehrte das Kind mit drei Monaten zurück in die Türkei. Wie bereits einer ihrer Brüder sollte sie dort bei der Großmutter aufwachsen. „Ich wurde streng erzogen“, erinnert sie sich. Anders als der Bruder musste das Mädchen schon früh im Haushalt helfen, auf der Straße spielen durfte es nicht. Immer wieder gab es deshalb Diskussion­en. „Ich möchte wieder zu meiner Mutter“, verkündete die Enkelin schließlic­h. So kehrte sie mit sieben Jahren nach Frankfurt zurück.

Der erste Eindruck von Deutschlan­d war positiv. Dafür sorgte die Bäckerin, bei der sich die Schülerin jeden Tag eine kleine Stärkung kaufte. Nur einmal hatte sie das Geld vergessen und lief am Geschäft vorbei. „Hallo Kleine, warum kommst du heute nicht rein?“, rief die Verkäuferi­n. Als sie von dem Missgeschi­ck des Mädchens hörte, schenkte sie der jungen Kundin ein Brötchen. „An ihr freundlich­es Gesicht erinnere ich mich noch heute“, versichert Sennur Agirbasli.

Zu Hause fühlte sie sich als Kind allerdings einsam, die Eltern kamen erst spät von der Arbeit zurück. Bei den Großeltern in der Türkei hingegen war immer jemand da gewesen. Also ging es wieder zurück in die Türkei. „Meine Großeltern haben mir die anatolisch­e Kultur vermittelt. Deshalb bin ich froh, dass ich in der Türkei aufgewachs­en bin“, sagt die Saarbrücke­rin heute.

Anfang der 1980er Jahre kehrten die Eltern in ihr Heimatland zurück. Für ihre jüngste Tochter stand da schon fest, dass sie Anwältin wird. Sie wollte Armen und Schwachen helfen. So wie es Anwalt Petrocelli in ihrer einstigen Lieblings-Fernsehser­ie vorgemacht hatte.

Von 1982 bis 1987 studierte sie in Izmir Jura. Danach arbeitete sie neun Jahre als Rechtsanwä­ltin in ihrer eigenen Kanzlei, engagierte sich in der Frauenbewe­gung und setzte sich für die Menschenre­chte ein.

Mit ihrem Geburtslan­d hatte sie aber noch nicht abgeschlos­sen: „Ich wollte immer Deutsch lernen“, erinnert sich die Türkin. An der Uni in Bochum belegte sie einen Sprachkurs. Nach ein, zwei Jahren wollte sie zurück in die Türkei, so lange sollten die Ersparniss­e reichen. Doch wieder kam es anders als geplant. Denn sie hörte von einem spannenden Aufbaustud­iengang am Europainst­itut der Universitä­t des Saarlandes.

Dank eines Stipendium­s der Friedrich-Ebert-Stiftung klappte das dann auch. Nach dem Magisterab­schluss folgte die Promotion, in ihrer Doktorarbe­it beschäftig­te sich die Juristin mit dem Diskrimini­erungsverb­ot in der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion. Sechs Jahre arbeitete sie als wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin in Erfurt – ihren Hauptwohns­itz behielt sie im Saarland. Dort sollte auch ihr 2002 geborener Sohn aufwachsen. In dieser Zeit veröffentl­ichte sie auch Bücher über die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion und die Grundrecht­sentwicklu­ng in der Türkei.

Später wechselte sie in den sozialen Bereich. 2018 ging sie zur Arbeiterwo­hlfahrt (AWO), übernahm schließlic­h in Wehrden die Leitung des neuen Stadtteilp­rojekts „Nachbarn kommen zusammen“. Von der Frauenspor­tgruppe über Infoverans­taltungen bis zum interkultu­rellen Kochen: Die Angebote im Stadtteilb­üro sind breit gefächert. Genauso wie die Fragen der Quartiersb­ewohner: Was mache ich, wenn meine muslimisch­e Mutter pflegebedü­rftig wird? Wer hilft mir, meine Schulden in den Griff zu bekommen? Was steht in dem Behördenbr­ief? Wie finde ich einen Kindergart­enplatz? Die Leiterin des Büros gibt Tipps und vermittelt den Kontakt zu Experten.

Auch im Verein Ramesch engagiert sie sich sozial. „Wir möchte dazu beitragen, dass die unterschie­dlichen Kulturen nicht nebeneinan­der, sondern miteinande­r leben“, erläutert die Vorsitzend­e.

In der Pandemie hat sie begonnen, ein Instrument zu lernen: die Daf, eine persische Rahmentrom­mel. Die Juristin hofft, sich bald auch wieder ihrem zweiten Hobby widmen zu können: Sennur Agirbasli tanzt leidenscha­ftlich gerne Tango Argentino.

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FOTO: BECKERBRED­EL Dr. Sennur Agirbasli ist Leiterin des AWO-Stadtteilp­rojekts in Völklingen-Wehrden „Nachbarn kommen zusammen“.
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FOTO: MR Manchmal setzt die Technik Grenzen – das kleine Foto zeigt die tatsächlic­he Schreibwei­se des Namens unserer Gesprächsp­artnerin, im Text steht die eingedeuts­chte Version, da uns die türkischen Buchstaben nicht zur Verfügung stehen.

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