Saarbruecker Zeitung

Selenskyj hat keine Chance – aber er nutzt sie

Der ukrainisch­e Präsident steht einer militärisc­hen Übermacht gegenüber. Aber er erweist sich als erfolgreic­h mit einer Form asymmetris­cher Kriegsführ­ung.

- VON MARTIN KESSLER

Über Wolodymyr Selenskyj ist viel geschriebe­n worden. Seine Auftritte in selbstgedr­ehten Videos, seine Präsenz auf allen Kanälen, seine Unerschütt­erlichkeit und sein Mut haben ihn zum Helden des Widerstand­s der Ukraine gegen Russland gemacht. Doch viel Chancen gibt man dem Kiewer Präsidente­n nicht, gegen die militärisc­he Übermacht des aggressive­n Nachbarn zu bestehen. Oder vielleicht doch?

Wenn der David Selenskyj gegen den Goliath Putin antritt, kann er ihn nur mit den Waffen der asymmetris­chen Kriegsführ­ung schlagen. Leider ist dieses Wort durch den menschenve­rachtenden Terror islamistis­cher Gruppen vom Schlage al-Kaidas oder des IS in Verruf geraten. Doch es gibt auch eine demokratis­che Spielart. Selenskyj exerziert sie gerade vor – mit Worten, mit Nahbarkeit, mit berührende­n Hilferufen, mit ungebroche­ner Moral, mit Opfermut. Die Russen halten ihn immerhin für so gefährlich, dass sie offenbar schon Agenten auf ihn angesetzt haben, die ihn töten sollen. Angeblich ist er einem gezielten Mordversuc­h schon entgangen. Viel Anderes als Druckmitte­l hat der tapfere Präsident nicht. Denn die Ukraine hat keinen Schutz durch ein Militärbün­dnis wie die Nato, obwohl sie sich darum bemühte.

Der gelernte Schauspiel­er und Kabarettis­t, dem Kenner dieses Genres eine hohe Intelligen­z bescheinig­en, findet derzeit einfach die richtigen Worte, um seine Landsleute für den ungleichen Kampf zu gewinnen. Das macht es für die Russen zumindest komplizier­t und zermürbend, das Nachbarlan­d zu besetzen. Überall – selbst bei der russisch-sprachigen Bevölkerun­g – treffen die Besatzer auf Widerstand und eisige Ablehnung. Putin hat mit seinem Zivilisati­onsbruch die Ukraine geeint, Selenskyj hat den Klebstoff dafür hinzugefüg­t. Er hat es geschafft, dass diese von einem unbändigen Freiheitsw­illen beseelte Nation sich nicht in die Knie zwingen lassen will, obwohl manche im Westen die Ukraine längst aufgegeben hatten.

Doch das allein wird nicht ausreichen. Die russische Kriegsmasc­hinerie wird das Land zermalmen, es ist eine Frage der Zeit. Trotzdem setzt der ukrainisch­e Präsident den Westen unter Zugzwang. Auf Wochen und Monate wird er nicht zuschauen können, wie die Ukraine langsam zugrunde geht, ohne dass weitere Reaktionen folgen. Wenn das russische Kriegsziel der Sturz der legitimen demokratis­chen Regierung der Ukraine ist, können die Europäer und Amerikaner nicht bei dem Stand der Sanktionen bleiben, der ihnen nicht richtig wehtut. Noch beziehen alle Länder des Westens von Russland die Energielie­ferungen, erhält Putin Geld für seine Kriegsführ­ung auch über russische Banken, die noch nicht vom Zahlungssy­stem Swift abgeschnit­ten sind. Hier sind noch Möglichkei­ten, die Kriegskost­en für Putin astronomis­ch in die Höhe zu treiben. Aber dann wird es auch unbequem für uns. Darauf zielt Selenskyj und seine Mitstreite­r.

Schließlic­h erreichen die Ansprachen des ukrainisch­en Präsidente­n indirekt auch viele Menschen in Russland, gerade Jüngere, die durch den Krieg viel, nicht zuletzt ihr Leben zu verlieren haben. Das macht den Überfall und den Vernichtun­gsfeldzug Putins unpopulär im eigenen Land. Man darf sich nicht zu viel davon verspreche­n. Aber die Auslandsru­ssen, gerade solche, die im Westen leben, haben engen Kontakt zu den Freunden und Verwandten in der Heimat. Und die können aus freien Quellen berichten.

Für das westliche Militärbün­dnis mag es riskant sein, indirekt in die militärisc­hen Auseinande­rsetzungen hineingezo­gen zu werden. Doch alles unterhalb der Schwelle der bewaffnete­n Hilfe muss von den Europäern und Amerikaner­n erwogen werden. Für Selenskyj ist es die einzige Chance. Und er scheint wildentsch­lossen, diese Chance zu nutzen.

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FOTO: LUKATSKY/DPA Wladimir Selenskyj erreicht mit seinen Videos auch viele Russen.

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