Selenskyj hat keine Chance – aber er nutzt sie
Der ukrainische Präsident steht einer militärischen Übermacht gegenüber. Aber er erweist sich als erfolgreich mit einer Form asymmetrischer Kriegsführung.
Über Wolodymyr Selenskyj ist viel geschrieben worden. Seine Auftritte in selbstgedrehten Videos, seine Präsenz auf allen Kanälen, seine Unerschütterlichkeit und sein Mut haben ihn zum Helden des Widerstands der Ukraine gegen Russland gemacht. Doch viel Chancen gibt man dem Kiewer Präsidenten nicht, gegen die militärische Übermacht des aggressiven Nachbarn zu bestehen. Oder vielleicht doch?
Wenn der David Selenskyj gegen den Goliath Putin antritt, kann er ihn nur mit den Waffen der asymmetrischen Kriegsführung schlagen. Leider ist dieses Wort durch den menschenverachtenden Terror islamistischer Gruppen vom Schlage al-Kaidas oder des IS in Verruf geraten. Doch es gibt auch eine demokratische Spielart. Selenskyj exerziert sie gerade vor – mit Worten, mit Nahbarkeit, mit berührenden Hilferufen, mit ungebrochener Moral, mit Opfermut. Die Russen halten ihn immerhin für so gefährlich, dass sie offenbar schon Agenten auf ihn angesetzt haben, die ihn töten sollen. Angeblich ist er einem gezielten Mordversuch schon entgangen. Viel Anderes als Druckmittel hat der tapfere Präsident nicht. Denn die Ukraine hat keinen Schutz durch ein Militärbündnis wie die Nato, obwohl sie sich darum bemühte.
Der gelernte Schauspieler und Kabarettist, dem Kenner dieses Genres eine hohe Intelligenz bescheinigen, findet derzeit einfach die richtigen Worte, um seine Landsleute für den ungleichen Kampf zu gewinnen. Das macht es für die Russen zumindest kompliziert und zermürbend, das Nachbarland zu besetzen. Überall – selbst bei der russisch-sprachigen Bevölkerung – treffen die Besatzer auf Widerstand und eisige Ablehnung. Putin hat mit seinem Zivilisationsbruch die Ukraine geeint, Selenskyj hat den Klebstoff dafür hinzugefügt. Er hat es geschafft, dass diese von einem unbändigen Freiheitswillen beseelte Nation sich nicht in die Knie zwingen lassen will, obwohl manche im Westen die Ukraine längst aufgegeben hatten.
Doch das allein wird nicht ausreichen. Die russische Kriegsmaschinerie wird das Land zermalmen, es ist eine Frage der Zeit. Trotzdem setzt der ukrainische Präsident den Westen unter Zugzwang. Auf Wochen und Monate wird er nicht zuschauen können, wie die Ukraine langsam zugrunde geht, ohne dass weitere Reaktionen folgen. Wenn das russische Kriegsziel der Sturz der legitimen demokratischen Regierung der Ukraine ist, können die Europäer und Amerikaner nicht bei dem Stand der Sanktionen bleiben, der ihnen nicht richtig wehtut. Noch beziehen alle Länder des Westens von Russland die Energielieferungen, erhält Putin Geld für seine Kriegsführung auch über russische Banken, die noch nicht vom Zahlungssystem Swift abgeschnitten sind. Hier sind noch Möglichkeiten, die Kriegskosten für Putin astronomisch in die Höhe zu treiben. Aber dann wird es auch unbequem für uns. Darauf zielt Selenskyj und seine Mitstreiter.
Schließlich erreichen die Ansprachen des ukrainischen Präsidenten indirekt auch viele Menschen in Russland, gerade Jüngere, die durch den Krieg viel, nicht zuletzt ihr Leben zu verlieren haben. Das macht den Überfall und den Vernichtungsfeldzug Putins unpopulär im eigenen Land. Man darf sich nicht zu viel davon versprechen. Aber die Auslandsrussen, gerade solche, die im Westen leben, haben engen Kontakt zu den Freunden und Verwandten in der Heimat. Und die können aus freien Quellen berichten.
Für das westliche Militärbündnis mag es riskant sein, indirekt in die militärischen Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Doch alles unterhalb der Schwelle der bewaffneten Hilfe muss von den Europäern und Amerikanern erwogen werden. Für Selenskyj ist es die einzige Chance. Und er scheint wildentschlossen, diese Chance zu nutzen.