Landgericht steht Mammutverfahren bevor
Eine internationale Bande soll mit Online-Betrug mehr als 1000 Anleger aus Deutschland und Österreich um mindestens 40 Millionen Euro geprellt haben.
SAARBRÜCKEN Die Akten zu dem gigantischen Fall mussten die Fahnder aus Saarbrücken und Wien per Lkw an das Landgericht liefern lassen. Allein die Anklageschrift mit 431 Seiten füllt zwei Leitzordner. Die dazu gehörenden Belege und Dokumente, die den millionenschweren Betrug beweisen sollen, sind penibel in mehr als 868 Ordnern sortiert und wurden der Justiz in exakt 81 Umzugskisten geliefert. Sebastian Abel, Sprecher des Landgerichts Saarbrücken, bestätigte jetzt auf Anfrage unserer Zeitung den Eingang der Anklage. Die Wirtschaftsstrafkammer soll sich mit dem Mammutverfahren (Aktenzeichen 2 KLS 2/22) beschäftigen. Noch ist die Anklage der Staatsanwaltschaft (Aktenzeichen 05Js 221/18) nicht zur Hauptverhandlung zugelassen. Das Aktenstudium wird vermutlich Wochen in Anspruch nehmen. Es handelt sich wohl um das bislang europaweit größte Verfahren wegen Online-Betrugs.
Für die Spezialisten in Sachen Cybercrime (Internetkriminalität), Wirtschaftskriminalität und Finanzermittlungen beim Landespolizeipräsidium (LPP) und der Staatsanwaltschaft ist der Fall, mit dem sie sich seit 2018 beschäftigen, noch lange nicht abgeschlossen. Weitere Verfahren, Haftbefehle und Ermittlungen, unter anderem wegen Geldwäsche, sind zu erwarten. Zuständige Dezernentin bei der Staatsanwaltschaft Saarbrücken ist, so wird berichtet, Victoria Hänel. Sie hatte auch das jüngste Großverfahren „Alphapool-Bonofa“wegen bandenmäßigen Kapitalanlagebetrugs per Internet geleitet. Die drei Angeklagten in diesem Verfahren wurden im März 2018 zu langjährigen Haftstrafen (sieben Jahre, sechseinhalb und sechs Jahre und drei Monate) verurteilt. Der Bundesgerichtshof hat das Urteil bestätigt.
Ging es bei „Alphapool“, einem betrügerischen Schneeball-System, um einen Schaden in Höhe von etwa sieben Millionen Euro für die Anleger, sind im aktuellen Cybercrime-Fall die Dimensionen deutlich größer. Nach SZ-Informationen wurde der in der Anklage bezifferte Schaden vorerst auf 40 Millionen Euro zum Nachteil von mehr als 1000 Anlegern, darunter viele aus dem Saarland, begrenzt. Tatsächlich dürfte die mutmaßliche Betrügerbande weit mehr als 100 Millionen Euro kassiert haben. Auch deshalb ist mit weiteren Anklagen gegen andere Beteiligte zu rechnen. Die vorliegende Anklage listet Fälle aus den Jahren 2016 bis 2019 auf.
Der mutmaßliche Kopf der international agierenden Bande, Karsten
L., ist zwischenzeitlich verstorben. Er wurde tot in seiner Zelle in der Saarbrücker Justizvollzugsanstalt „Lerchesflur“gefunden. Die genaue Todesursache ist angeblich auch nach einer Obduktion der Leiche ungeklärt. Der vermögende Deutsche soll vor seiner Inhaftierung mit Vorliebe in einem Fünf-Sterne-Hotel in Tirol und in einer Luxusherberge in St. Tropez residiert haben. Sein hinterlassenes Vermögen soll beschlagnahmt werden. Die Ermittler gehen davon aus, dass er ein kriminelles und international agierendes Netzwerk geknüpft hatte, um über mehrere Internet-Plattformen an Geld von Anlegern, die etwa auf Börsenkurse Wetten abschließen wollten, zu kommen. Konkret geht es wohl vorerst um die InternetAuftritte „Option 888“, „XMarkets“(nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Deutsche-Bank-Tochter) und „ZoomTrader“. Die Software für diese Plattformen stammt angeblich aus Bulgarien. Zu der organisierten Bande gehörten auch die Betreiber mehrerer Callcenter, unter anderem in Prag und im Kosovo. Deren Mitarbeiter sollen die Opfer, die über die Internetseiten angeworben wurden, trickreich motiviert und überzeugt haben, immer mehr Geld zu investieren. Die Ermittler gehen wohl davon aus, dass eingezahltes Kapital tatsächlich nicht an der Börse eingesetzt wurde, sondern direkt in dunkle Kanäle floss. Die Finanztransaktionen wurden vermutlich über Dutzende Bankkonten verschoben und verschleiert. Auf die Geldwäsche-Ermittler wartet demnach noch viel Arbeit.
Einer der mutmaßlichen Callcenter-Chefs ging den Zielfahndern der saarländischen Polizei in Albanien ins Netz. A.S. (28) wurde ausgeliefert
Für die Ermittlungen wurde ein länderübergreifendes Team mit Ermittlern aus Saarbrücken und Wien gegründet.
und sitzt seit September 2020 in Saarbrücken in Untersuchungshaft. Gegen ihn richtet sich die jetzt erhobene Anklage. Sein Verteidiger, der Saarbrücker Rechtsanwalt Walter Teusch, wollte auf Anfrage unserer Zeitung vorerst keine Stellungnahme zu den Anklagevorwürfen abgeben. Teusch will sich mit seinem Berliner Kollegen, der ebenfalls mandatiert ist, beraten.
Irgendwo im Kosovo wird der ebenfalls angeklagte B. T. (33) vermutet. Zielfahnder haben seine Spur aufgenommen. Ein vom Saarbrücker Amtsgericht ausgestellter internationaler Haftbefehl existiert. Auch er soll ein Callcenter, über das die mutmaßlichen Betrüger die vorgetäuschten Finanzgeschäfte vertrieben haben, geleitet haben. Der dritte Angeklagte wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs ist nach SZ-Informationen Mohammed S. (37) mit Adresse in Tschechien.
Für die Ermittlungen in diesem Fall haben die Ermittler aus Saarbrücken und der Zentralen Wirtschaftsstaatsanwaltschaft in Wien vertraglich eine länderübergreifende Ermittlungsgruppe gegründet. Bis zu zwölf Fahnder des Saarbrücker Präsidiums und vier Österreicher sind bislang mit den Untersuchungen beschäftigt. Über 300 Vernehmungen wurden geführt. Es gab mehr als 30 Razzien in Bulgarien, Österreich, Tschechien, im Kosovo und in Deutschland. Dabei wurden auch komplette Anleitungen für Callcenter-Mitarbeiter gefunden, wie diese Gespräche mit möglichen Investoren führen sollten, um die „Kunden“unter Druck zu setzen und zu erreichen, dass weiteres Geld eingezahlt wird. Die Mitarbeiter kassierten offenbar anteilig Erfolgsprovisionen. Unter anderem wurde berichtet, dass über „Stammkunden“sogar Psychogramme angelegt worden sein sollen, in denen etwa persönliche Verhältnisse, Vorlieben, Schwächen und Lebenssituationen notiert waren. In Wien, so heißt es, laufen erste Verfahren gegen Mitarbeiter von diversen Callcentern. Bei den Durchsuchungen wurden fünf Terabyte Daten beschlagnahmt.
Nach derzeitigem Stand der Dinge gehen die Wirtschaftskriminalisten davon aus, dass die Zahl der durch diese Betrugsmasche Geschädigten bei 300 000 liegt. Zudem gibt es wohl Hinweise auf möglicherweise knapp 400 betroffene Internet-Portale.