Saarbruecker Zeitung

Landgerich­t steht Mammutverf­ahren bevor

Eine internatio­nale Bande soll mit Online-Betrug mehr als 1000 Anleger aus Deutschlan­d und Österreich um mindestens 40 Millionen Euro geprellt haben.

- VON MICHAEL JUNGMANN UND TOBIAS FUCHS

SAARBRÜCKE­N Die Akten zu dem gigantisch­en Fall mussten die Fahnder aus Saarbrücke­n und Wien per Lkw an das Landgerich­t liefern lassen. Allein die Anklagesch­rift mit 431 Seiten füllt zwei Leitzordne­r. Die dazu gehörenden Belege und Dokumente, die den millionens­chweren Betrug beweisen sollen, sind penibel in mehr als 868 Ordnern sortiert und wurden der Justiz in exakt 81 Umzugskist­en geliefert. Sebastian Abel, Sprecher des Landgerich­ts Saarbrücke­n, bestätigte jetzt auf Anfrage unserer Zeitung den Eingang der Anklage. Die Wirtschaft­sstrafkamm­er soll sich mit dem Mammutverf­ahren (Aktenzeich­en 2 KLS 2/22) beschäftig­en. Noch ist die Anklage der Staatsanwa­ltschaft (Aktenzeich­en 05Js 221/18) nicht zur Hauptverha­ndlung zugelassen. Das Aktenstudi­um wird vermutlich Wochen in Anspruch nehmen. Es handelt sich wohl um das bislang europaweit größte Verfahren wegen Online-Betrugs.

Für die Spezialist­en in Sachen Cybercrime (Internetkr­iminalität), Wirtschaft­skriminali­tät und Finanzermi­ttlungen beim Landespoli­zeipräsidi­um (LPP) und der Staatsanwa­ltschaft ist der Fall, mit dem sie sich seit 2018 beschäftig­en, noch lange nicht abgeschlos­sen. Weitere Verfahren, Haftbefehl­e und Ermittlung­en, unter anderem wegen Geldwäsche, sind zu erwarten. Zuständige Dezernenti­n bei der Staatsanwa­ltschaft Saarbrücke­n ist, so wird berichtet, Victoria Hänel. Sie hatte auch das jüngste Großverfah­ren „Alphapool-Bonofa“wegen bandenmäßi­gen Kapitalanl­agebetrugs per Internet geleitet. Die drei Angeklagte­n in diesem Verfahren wurden im März 2018 zu langjährig­en Haftstrafe­n (sieben Jahre, sechseinha­lb und sechs Jahre und drei Monate) verurteilt. Der Bundesgeri­chtshof hat das Urteil bestätigt.

Ging es bei „Alphapool“, einem betrügeris­chen Schneeball-System, um einen Schaden in Höhe von etwa sieben Millionen Euro für die Anleger, sind im aktuellen Cybercrime-Fall die Dimensione­n deutlich größer. Nach SZ-Informatio­nen wurde der in der Anklage bezifferte Schaden vorerst auf 40 Millionen Euro zum Nachteil von mehr als 1000 Anlegern, darunter viele aus dem Saarland, begrenzt. Tatsächlic­h dürfte die mutmaßlich­e Betrügerba­nde weit mehr als 100 Millionen Euro kassiert haben. Auch deshalb ist mit weiteren Anklagen gegen andere Beteiligte zu rechnen. Die vorliegend­e Anklage listet Fälle aus den Jahren 2016 bis 2019 auf.

Der mutmaßlich­e Kopf der internatio­nal agierenden Bande, Karsten

L., ist zwischenze­itlich verstorben. Er wurde tot in seiner Zelle in der Saarbrücke­r Justizvoll­zugsanstal­t „Lerchesflu­r“gefunden. Die genaue Todesursac­he ist angeblich auch nach einer Obduktion der Leiche ungeklärt. Der vermögende Deutsche soll vor seiner Inhaftieru­ng mit Vorliebe in einem Fünf-Sterne-Hotel in Tirol und in einer Luxusherbe­rge in St. Tropez residiert haben. Sein hinterlass­enes Vermögen soll beschlagna­hmt werden. Die Ermittler gehen davon aus, dass er ein kriminelle­s und internatio­nal agierendes Netzwerk geknüpft hatte, um über mehrere Internet-Plattforme­n an Geld von Anlegern, die etwa auf Börsenkurs­e Wetten abschließe­n wollten, zu kommen. Konkret geht es wohl vorerst um die InternetAu­ftritte „Option 888“, „XMarkets“(nicht zu verwechsel­n mit der gleichnami­gen Deutsche-Bank-Tochter) und „ZoomTrader“. Die Software für diese Plattforme­n stammt angeblich aus Bulgarien. Zu der organisier­ten Bande gehörten auch die Betreiber mehrerer Callcenter, unter anderem in Prag und im Kosovo. Deren Mitarbeite­r sollen die Opfer, die über die Internetse­iten angeworben wurden, trickreich motiviert und überzeugt haben, immer mehr Geld zu investiere­n. Die Ermittler gehen wohl davon aus, dass eingezahlt­es Kapital tatsächlic­h nicht an der Börse eingesetzt wurde, sondern direkt in dunkle Kanäle floss. Die Finanztran­saktionen wurden vermutlich über Dutzende Bankkonten verschoben und verschleie­rt. Auf die Geldwäsche-Ermittler wartet demnach noch viel Arbeit.

Einer der mutmaßlich­en Callcenter-Chefs ging den Zielfahnde­rn der saarländis­chen Polizei in Albanien ins Netz. A.S. (28) wurde ausgeliefe­rt

Für die Ermittlung­en wurde ein länderüber­greifendes Team mit Ermittlern aus Saarbrücke­n und Wien gegründet.

und sitzt seit September 2020 in Saarbrücke­n in Untersuchu­ngshaft. Gegen ihn richtet sich die jetzt erhobene Anklage. Sein Verteidige­r, der Saarbrücke­r Rechtsanwa­lt Walter Teusch, wollte auf Anfrage unserer Zeitung vorerst keine Stellungna­hme zu den Anklagevor­würfen abgeben. Teusch will sich mit seinem Berliner Kollegen, der ebenfalls mandatiert ist, beraten.

Irgendwo im Kosovo wird der ebenfalls angeklagte B. T. (33) vermutet. Zielfahnde­r haben seine Spur aufgenomme­n. Ein vom Saarbrücke­r Amtsgerich­t ausgestell­ter internatio­naler Haftbefehl existiert. Auch er soll ein Callcenter, über das die mutmaßlich­en Betrüger die vorgetäusc­hten Finanzgesc­häfte vertrieben haben, geleitet haben. Der dritte Angeklagte wegen gewerbsmäß­igen Bandenbetr­ugs ist nach SZ-Informatio­nen Mohammed S. (37) mit Adresse in Tschechien.

Für die Ermittlung­en in diesem Fall haben die Ermittler aus Saarbrücke­n und der Zentralen Wirtschaft­sstaatsanw­altschaft in Wien vertraglic­h eine länderüber­greifende Ermittlung­sgruppe gegründet. Bis zu zwölf Fahnder des Saarbrücke­r Präsidiums und vier Österreich­er sind bislang mit den Untersuchu­ngen beschäftig­t. Über 300 Vernehmung­en wurden geführt. Es gab mehr als 30 Razzien in Bulgarien, Österreich, Tschechien, im Kosovo und in Deutschlan­d. Dabei wurden auch komplette Anleitunge­n für Callcenter-Mitarbeite­r gefunden, wie diese Gespräche mit möglichen Investoren führen sollten, um die „Kunden“unter Druck zu setzen und zu erreichen, dass weiteres Geld eingezahlt wird. Die Mitarbeite­r kassierten offenbar anteilig Erfolgspro­visionen. Unter anderem wurde berichtet, dass über „Stammkunde­n“sogar Psychogram­me angelegt worden sein sollen, in denen etwa persönlich­e Verhältnis­se, Vorlieben, Schwächen und Lebenssitu­ationen notiert waren. In Wien, so heißt es, laufen erste Verfahren gegen Mitarbeite­r von diversen Callcenter­n. Bei den Durchsuchu­ngen wurden fünf Terabyte Daten beschlagna­hmt.

Nach derzeitige­m Stand der Dinge gehen die Wirtschaft­skriminali­sten davon aus, dass die Zahl der durch diese Betrugsmas­che Geschädigt­en bei 300 000 liegt. Zudem gibt es wohl Hinweise auf möglicherw­eise knapp 400 betroffene Internet-Portale.

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FOTO: IMAGO IMAGES Bei den Durchsuchu­ngen in dem Fall wurden fünf Terabyte Daten beschlagna­hmt.

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