Saarbruecker Zeitung

Gold-Sensation durch die „Küken-WG“

18 Jahre alte Biathletin Leonie Walter gewinnt bei den Paralympic­s überrasche­nd Gold über zehn Kilometer. Recktenwal­d auf Platz vier.

- VON HOLGER SCHMIDT UND TOBIAS BRINKMANN

ZHANGJIAKO­U (dpa) Direkt hinter der Linie fiel Leonie Walter entkräftet auf den Rücken. Doch als klar war, dass die 18 Jahre alte Biathletin Paralympic­s-Gold in Peking gewonnen hat, gab es kein Halten mehr. „Ich habe die ganze Zeit nach oben geschaut und mich gefragt: Wo bleibt die Zeit?“, erzählte Walter am Dienstag mit zittriger Stimme: „Dann sind alle aufgesprun­gen, und ich wusste, ich hab‘s.“

Im Teamkreis werden Walter und ihre drei Jahre jüngere Zimmergeno­ssin Linn Kazmaier nur die „Küken-WG“genannt. Und die liefert bei den Paralympic­s in Peking zuverlässi­g. Doch mit dieser goldenen Krönung durch Walter hätte niemand gerechnet. Die zehn Kilometer in der Klasse der Sehbehinde­rten hatte die Schülerin in der Loipe von Zhangjiako­u mit bemerkensw­erter Coolheit gemeistert. Beim Live-Anruf bei Mutter Renate im Schwarzwal­d während eines ARD-Interviews verschlug es ihr dann aber die Sprache. Lachend und kommentarl­os hörte sie sich an, wie die Mutter ihr zurief, wie „unfassbar“und „unglaublic­h“das alles sei. Und dass „ganz St. Peter jetzt auf dich wartet.“

Mit Silber für Fahnenträg­er Martin Fleig und Bronze für Anja Wicker gab es am Ruhetag der alpinen Athleten sogar einen kompletten Medaillens­atz für den Deutschen Behinderte­nsportverb­and (DBS). Teamkolleg­in Johanna Recktenwal­d aus Marpingen landete mit einem Rückstand von 5:03,4 Minuten und drei Schießfehl­ern auf Rang vier, zu Bronze fehlten gut drei Minuten.

Doch das zweite Gold nach dem von Anna-Lena Forster in der Super-Kombinatio­n überstrahl­te an diesem Dienstag alles. Und war die Krönung des Auftritts von Leonie Walter und ihrer diesmal geschonten Zimmergeno­ssin Linn Kazmaier. Nach zweimal Silber der 15 Jahre alten Kazmaier und zuvor zweimal Bronze für Walter hat das sehbehinde­rte Teenager-Duo aus der „Küken-WG“nun schon fünf Medaillen geholt.

„Das ist über alle Erwartunge­n hinaus“, sagte DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher. Der 75-Jährige war außer Atem, er war auf der Ziellinie neben Walter hergelaufe­n, um sie anzufeuern. „Und nun strahle ich mit der Sonne um die Wette“, sagte er. „Ich habe erstmal Bier in die Wachskabin­e gebracht“, berichtete derweil Deutschlan­ds Chef de Mission Karl Quade. Verdient, wie Bundestrai­ner Ralf Rombach fand. „Das war auch eine Materialsa­che“, sagte er: „Aber wie Leonie in so jungen Jahren die Nerven behält, das ist schon sehr besonders. Sie ist einfach eine coole Socke.“

Dass die zuvor stets direkt vor Walter platzierte Kazmaier am Dienstag pausierte, sei dennoch kein Fehler gewesen, beteuerten alle. „Man muss vorsichtig sein, was man einem 15-jährigen Körper zumutet“, sagte Beucher. Quade erklärte, man könne eine so junge Athletin nicht sechs Mal starten lassen. „Wer weiß, was man damit nachhaltig kaputtmach­t“, meinte er. Und Rombach stellte gleich die nächste Überraschu­ng in Aussicht: „Linn wollte gerne für den Sprint am Mittwoch viele Körner haben.“

Bei den erfahrenen nordischen Athleten war es bis Dienstag nicht so gelaufen, doch es folgte die Erlösung. Anja Wicker wurde von Oksana Masters jubelnd im Ziel empfangen. Über die Bronzemeda­ille der Stuttgarte­rin schien sich die US-Amerikaner­in fast mehr zu freuen als über ihr Silber. Denn Wicker hatte Bronze gleich vier nach ihr einlaufend­en Chinesinne­n entrissen. Und deren Klassifizi­erung hatte Masters dieser Tage in Frage gestellt. Der besondere Jubel habe „sicher damit zusammenge­hangen“. Was die Kritik an der Klassifizi­erung beträfe, „bin ich ja auch ganz bei ihr“, sagte Wicker, die laut Beucher „bärenstark“gelaufen war. Auch Martin Fleigs Leistung sei „sensatione­ll“gewesen: „Und das, nachdem er bisher so enttäuscht war.“

In den ersten beiden Rennen hatte der Freiburger Rang fünf und neun belegt. Wicker war einmal Fünfte geworden und hatte auf den zweiten Start verzichtet. Fleig erklärte deshalb auch, er sei „mega erleichter­t und superhappy. Ich war vor heute schon stolz wie Harry auf unser Team, weil ich mich mega für die Jungen gefreut habe. Jetzt selbst auf dem Podium zu stehen, ist aber auch sehr cool.“

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FOTO: BÜTTNER/DPA Lass dich umarmen: Goldmedail­lengewinne­rin Leonie Walter wird von Guide Pirmin Strecker nach ihrem Sensations­sieg kräftig geherzt.

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