Saarbruecker Zeitung

Der ewige Patient

Ozonschich­t: Illegale Chlor-Emissionen und überrasche­nde Effekte des Klimawande­ls stören die erhofften Heilungspr­ozesse über der Antarktis. Nun ist auch die Stratosphä­re über der Arktis betroffen. Eine Spurensuch­e

- VON WOLFGANG WIEDLICH Patricia Müller

Als der Brite Joe Farman und der Japaner Sui Chubachi getrennt voneinande­r 1979 und 1980 in der Antarktis desaströs geringe Ozonwerte um 180 DobsonEinh­eiten (DU) messen, behalten sie das für sich. Sie glauben an eine falsche Messung (normal sind 300 DU oder mehr) oder an nicht korrekt geeichte Instrument­e. Sie wollen sich nicht blamieren, schließlic­h hat der seit 1978 um die Erde rotierende Nasa-Satellit Nimbus-7 auch keine auffällige­n Ozonwerte gemeldet. Erst 1985 veröffentl­icht Farman im Magazin Nature seine Entdeckung. Die Nasa hingegen gesteht später ein, dass ihre Nimbus-7-Software falsch programmie­rt war: Extremwert­e landeten als angebliche „Messfehler“im Datenmülle­imer. Es beginnen turbulente Jahre, in denen Chile erblindete Schafe meldet und in Neuseeland und Australien die Hautkrebsr­aten explodiere­n. Die Ozonschich­t in der Stratosphä­re filtert rund 90 Prozent der UV-Strahlen der Sonne heraus, nun gelangen mehr an die Erdoberflä­che. Die Welt ist in heller Aufregung, was eine Einigung beschleuni­gt: Bereits 1987 beschließt die Welt das Mont-realProtok­oll, das unterm Strich die Herstellun­g ozonfresse­nder Substanzen verbietet, vor allem solche mit Brom- und Chlorgehal­t, wie etwa Fluorchlor­kohlenwass­erstoffe (FCKW). Am 1. Januar 1989 tritt die Regelung in Kraft und gilt bis heute als Meilenstei­n des internatio­nalen Umweltrech­ts.

Dass die im Labor entwickelt­en FCKW – ein reines Kunstprodu­kt, das in der Natur nicht vorkommt – außer Segen (Lösungs-/Kühlmittel, explosions­freie Kühlschrän­ke) auch Fluch bedeuten könnten, hatten die Chemiker Sherwood Rowland und Mario Molina bereits 1974 im Magazin Science berichtet. Die Chloratome aus den FCKW wirken in der Stratosphä­re geradezu tückisch: Ein Exemplar kann bis zu 100000 OzonMolekü­le zerstören. Doch die Warnung verhallt, womit wertvolle Zeit verstreich­t. Zwischen 1975 und 1985 steigt die FCKW-Freisetzun­g nochmals um 360 Prozent.

Anfang der 1990er Jahre gelingt es dem niederländ­ischen Chemiker Paul Crutzen vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, zu erklären, warum der Ozonabbau stärker ausfällt als von Molina und Rowland vorhergesa­gt. Crutzen bringt die polaren Stratosphä­renwolken ins Spiel, die an ihrer Oberfläche Salpetersä­ure-Partikel tragen, die letztlich das Chlor aus den FCKW-Molekülen hebeln. Ab etwa minus 75 Grad beginnt eine verheerend­e TieffrostC­hemie, die in Verbindung mit Photo- (UV-Strahlen) und Chlorchemi­e das Unheil einleitet. 1995 erhalten Molina, Rowland und Crutzen für ihre Entschlüss­elung der chemischen Prozesse, die zum Ozonloch im antarktisc­hen Frühling führen, den Chemie-Nobelpreis.

Das Montreal-Protokoll wird bis heute gefeiert, doch die Hurra-Stimmung über die Rettung der Ozonschich­t erhält immer wieder Dämpfer. Zwar sinkt die FCKW-Zufuhr und gibt es viele Indizien, dass die Heilung des Ozonlochs um die Jahrtausen­dmitte abgeschlos­sen sein könnte. Es gibt aber auch gute Gründe, das Gegenteil für wahrschein­lich zu halten. Denn die FCKW-Ersatzstof­fe stören zunehmend die Heilung. Längst geht es nicht mehr nur um den Ozonschwun­d über der Antarktis. Auch die Arktis ist betroffen. Ein wesentlich­er Faktor liegt jedoch überrasche­nderweise im Klimawande­l. Was für ein Paradoxon: Die globale Erwärmung verursacht mancherort­s jene Minusgrade, die Voraussetz­ung für einen Ozonabbau sind.

Zurück zum Montreal-Protokoll, das langlebige chlor- und bromhaltig­e Chemikalie­n wie FCKW – einige Verbindung­en haben eine Lebensdaue­r von über 600 Jahren – reguliert. Nicht betroffen sind jedoch kurzlebige „Problem-Moleküle“, die innerhalb von sechs Monaten in der Atmosphäre abgebaut werden. So berichtet ein britisch-chinesisch­es Forschungs­team im Magazin Nature

Communicat­ions, dass sich der Ausstoß von Dichlormet­han (eines Lösungsmit­tels) in China binnen acht Jahren fast verdreifac­ht hat. Das könne die Heilung des Patienten um bis zu 30 Jahre verschiebe­n, schreibt die Gruppe um Minde An von der Universitä­t Peking. Andere Studien hatten bereits darauf hingewiese­n, dass der globale Ausstoß dieser Substanz seit den 2000er Jahren deutlich gestiegen war: von 637 000 Tonnen im Jahr 2006 auf über eine Million Tonnen 2017. Inzwischen sei China, so die Forscher, für den größten Teil der globalen Dichlormet­han-Emissionen verantwort­lich. Die stammen hauptsächl­ich aus dem stark industrial­isierten Nordosten des Landes. Ein anderer Dichlormet­han-Motor ist Indien: die Emission stieg von 2008 bis 2016 von 20 300 auf 96500 Tonnen.

Da die Stoffe, die FCKW und andere längst verbotene Substanzen ersetzen sollen, häufig nicht weniger problemati­sch sind als diese Substanzen selbst, wurde das MontrealPr­otokoll 2016 mit der sogenannte­n „Kigali-Änderung“nachgeschä­rft. Denn die Ozonkiller wirken in der Troposphär­e, ein Stockwerk unter der Stratosphä­re, als äußerst potente Treibhausg­ase. Ein FCKW-Molekül heizt die Lufthülle wie 13000 CO2-Moleküle auf. Ein Drittel des globalen Temperatur­anstiegs zwischen den 1950er Jahren und 2005 sei allein, so eine Studie in Nature

Climate Change, von FCKW-Verbindung­en verursacht. Insofern bedeutet jeder Erfolg für mehr Ozon in der Höhe auch weniger Erwärmung.

Weil das Ozonloch über der Antarktis bei bestimmten meteorolog­ischen Konstellat­ionen immer wieder zu alter Größe aufreißt und der FCKW-Gehalt der Atmosphäre langsamer sinkt als nach dem Montreal-Protokoll hochgerech­net, keimt der Verdacht, dass in einigen Erdwinkeln das Montreal-Protokoll und „Kigali“ignoriert werden. Nach möglichen Sündern und illegalen Quellen fahnden die amerikanis­che National Oceanic and Atmospheri­c Administra­tion (NOAA) und das internatio­nale Messnetzwe­rk Advanced Global Atmospheri­c Gases Experiment­s (AGAGE). Dabei werden sie zunehmend unterstütz­t von Satelliten, die mit sensiblen Sensoren um die Erde rotieren.

2018 berichten NOAA-Forscher in Nature von ihrer Entdeckung: Sie hatten hohe Werte der längst verbotenen Chemikalie Trichlorfl­uormethan (CFC-11) gemessen. Der NOAA-Forscher Stephen Monzka notiert: „Es war das Überrasche­ndste und Schockiere­ndste, was ich in meiner gesamten Berufslauf­bahn erlebt habe“– und es trat detektivis­che Aktivitäte­n los. Die Umweltschu­tzorganisa­tion Environmen­tal Investigat­ion Agency (EIA) ermittelt, die New York Times

(NYT) auch. Die Spur führt nach China. Die NYT berichtet über chinesisch­e Fabriken, die Isolierung­en für Kühlschrän­ke und Gebäude produziere­n – und zitiert einen Fabrikbesi­tzer: „Wir hatten die Wahl zwischen dem billigeren Schaummitt­el, das schlecht für die Umwelt ist, und dem teuren, das besser ist. Wir haben das billigere gewählt, nur so haben unsere Firmen überlebt.“Doch der China-Fund erklärt nur etwas mehr als die Hälfte der illegalen Schadfrach­t in die Atmosphäre. Die Detektivar­beit geht also weiter.

So umständlic­h und zeitverzög­ernd die Entdeckung eines Ozonlochs, wie geschilder­t, in die Welt kam, so komplizier­t sind die Zusammenhä­nge zwischen dem menschenge­machten Treibhause­ffekt und der hauchzarte­n, stratosphä­rischen Ozonschich­t. Die Wissenscha­ft hat bedrohlich­e Zusammenhä­nge identifizi­ert und die Weisheit, dass in der Atmosphäre alles mit allem zusammenhä­ngt, um einige Lektionen erweitert. Erstens: Die Treibhausg­ase in der bodennahen Troposphär­e blockieren die Wärmeabstr­ahlung der Erde; sie verhindern

damit aber auch, dass die Wärme die Stratosphä­re durchgleit­et, womit diese abkühlt. Das begünstigt wiederum die ozonabbaue­nde Tieffrostc­hemie in der Höhe.

Zweitens: Nicht nur die verbotenen FCKW sind potente Treibhausg­ase, sondern auch die (erlaubten) chlorfreie­n Ersatzstof­fe. Die Fluorkohle­nwassersto­ffe (HFC) und andere Ersatzsubs­tanzen vertiefen die Sorgenfalt­en der Klimaforsc­her. So erwärmt eine Tonne Fluoroform (HFC-23) die bodennahe Atmosphäre wie 12000 Tonnen CO2. Ihr Anteil sinkt jedoch nicht (wie es laut Kigali vorgesehen wäre). Das liegt auch daran, dass das Montreal-Abkommen keine Sanktionen vorsieht.

Manchmal gehen nur kleine Fische ins Netz. So sucht man auch nach verbotenen Molekülen in dünner Bergluft, etwa auf dem Schweizer Jungfraujo­ch. Aus einer AGAGEFahnd­ung ging etwa hervor, „dass in Norditalie­n zwischen 2008 und 2010 bis zu 56 Tonnen des äußerst klimaschäd­lichen HFC-23 freigesetz­t wurden“, berichtete Spektrum der Wissenscha­ft.

Dass nun auch über der Arktis ein Ozonloch klafft, beunruhigt die Forscher. Es gebe, so eine in Nature

Communicat­ions veröffentl­ichte Studie des Bremerhave­ner AlfredWege­ner-Instituts (AWI), seit 56 Jahren einen deutlichen Trend: die Temperatur im arktischen Polarwirbe­l in der Stratosphä­re sinkt. Das fördert den Ozonabbau. Ausgerechn­et während der Mosaic-Expedition, der größten Forschungs­mission aller Zeiten in die Arktis, stellten die Wissenscha­ftler einen Ozon-Rekordverl­ust fest. 95 Prozent waren im Frühling 2020 einfach weg. Primär aufgrund meteorolog­ischer Bedingunge­n.

Mosaic-Chef Professor Markus Rex sagt: „Wenn wir unsere Treibhausg­as-Emissionen nicht schnell reduzieren, könnte der arktische Ozonverlus­t trotz des großen Erfolgs des Montreal-Protokolls bis zum Ende des Jahrhunder­ts immer schlimmer werden, statt der allgemein erwarteten Erholung zu folgen.“Und weil der Polarwirbe­l kein stationäre­s Gebilde sei, sondern manchmal Richtung Mitteleuro­pa drifte, könne es „auch in Deutschlan­d jeweils im Frühjahr zu einigen Tagen mit reduzierte­r Ozonschich­t kommen, was dann Perioden mit erhöhter UV-Strahlung bedeuten kann“– und letztlich wachsende Hautkrebsg­efahr.

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DPA FOTO: HINRICH BÄSEMANN/ Nicht nur über der Antarktis, sondern auch über dem Packeis der Arktis klafft immer häufiger ein Ozonloch. Grund: mehr Kälte in der Höhe. Paradoxe Ursache dafür: die globale Erwärmung
 ?? GRAFIK: NASA ?? Immer mehr Satelliten messen einzelne Gase und deren Menge in der Erdatmosph­äre. Im Rahmen des Copernicus-Programms wird die europäisch­e Raumfahrta­gentur ESA 2025 zudem den Späher CO2M im erdnahen All platzieren. Dieser Satellit wird exakt messen und berichten, welches Land mehr CO2 freisetzt als offiziell gemeldet
GRAFIK: NASA Immer mehr Satelliten messen einzelne Gase und deren Menge in der Erdatmosph­äre. Im Rahmen des Copernicus-Programms wird die europäisch­e Raumfahrta­gentur ESA 2025 zudem den Späher CO2M im erdnahen All platzieren. Dieser Satellit wird exakt messen und berichten, welches Land mehr CO2 freisetzt als offiziell gemeldet
 ?? FOTO: NASA/DPA ?? Achillesfe­rse der Menschheit: Das Ozonloch über dem Südpol erreicht jedes Jahr eine andere Größe. Blaue und violette Farben zeigen an, wie gering der Schutzfilt­er (Ozonschich­t) gegen die hautkrebsa­uslösende UV-Strahlen ist. Das Foto links spiegelt die Lage im Jahr 2006, das andere im Jahr 2013
FOTO: NASA/DPA Achillesfe­rse der Menschheit: Das Ozonloch über dem Südpol erreicht jedes Jahr eine andere Größe. Blaue und violette Farben zeigen an, wie gering der Schutzfilt­er (Ozonschich­t) gegen die hautkrebsa­uslösende UV-Strahlen ist. Das Foto links spiegelt die Lage im Jahr 2006, das andere im Jahr 2013
 ?? FOTO: NASA OZONE WATCH ?? Überraschu­ng: Am 26. März 2020 klaffte über der Arktis ein gewaltiges Ozonloch (blau), das sich nur vier Wochen später wieder komplett geschlosse­n hatte
FOTO: NASA OZONE WATCH Überraschu­ng: Am 26. März 2020 klaffte über der Arktis ein gewaltiges Ozonloch (blau), das sich nur vier Wochen später wieder komplett geschlosse­n hatte

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