Der ewige Patient
Ozonschicht: Illegale Chlor-Emissionen und überraschende Effekte des Klimawandels stören die erhofften Heilungsprozesse über der Antarktis. Nun ist auch die Stratosphäre über der Arktis betroffen. Eine Spurensuche
Als der Brite Joe Farman und der Japaner Sui Chubachi getrennt voneinander 1979 und 1980 in der Antarktis desaströs geringe Ozonwerte um 180 DobsonEinheiten (DU) messen, behalten sie das für sich. Sie glauben an eine falsche Messung (normal sind 300 DU oder mehr) oder an nicht korrekt geeichte Instrumente. Sie wollen sich nicht blamieren, schließlich hat der seit 1978 um die Erde rotierende Nasa-Satellit Nimbus-7 auch keine auffälligen Ozonwerte gemeldet. Erst 1985 veröffentlicht Farman im Magazin Nature seine Entdeckung. Die Nasa hingegen gesteht später ein, dass ihre Nimbus-7-Software falsch programmiert war: Extremwerte landeten als angebliche „Messfehler“im Datenmülleimer. Es beginnen turbulente Jahre, in denen Chile erblindete Schafe meldet und in Neuseeland und Australien die Hautkrebsraten explodieren. Die Ozonschicht in der Stratosphäre filtert rund 90 Prozent der UV-Strahlen der Sonne heraus, nun gelangen mehr an die Erdoberfläche. Die Welt ist in heller Aufregung, was eine Einigung beschleunigt: Bereits 1987 beschließt die Welt das Mont-realProtokoll, das unterm Strich die Herstellung ozonfressender Substanzen verbietet, vor allem solche mit Brom- und Chlorgehalt, wie etwa Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW). Am 1. Januar 1989 tritt die Regelung in Kraft und gilt bis heute als Meilenstein des internationalen Umweltrechts.
Dass die im Labor entwickelten FCKW – ein reines Kunstprodukt, das in der Natur nicht vorkommt – außer Segen (Lösungs-/Kühlmittel, explosionsfreie Kühlschränke) auch Fluch bedeuten könnten, hatten die Chemiker Sherwood Rowland und Mario Molina bereits 1974 im Magazin Science berichtet. Die Chloratome aus den FCKW wirken in der Stratosphäre geradezu tückisch: Ein Exemplar kann bis zu 100000 OzonMoleküle zerstören. Doch die Warnung verhallt, womit wertvolle Zeit verstreicht. Zwischen 1975 und 1985 steigt die FCKW-Freisetzung nochmals um 360 Prozent.
Anfang der 1990er Jahre gelingt es dem niederländischen Chemiker Paul Crutzen vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, zu erklären, warum der Ozonabbau stärker ausfällt als von Molina und Rowland vorhergesagt. Crutzen bringt die polaren Stratosphärenwolken ins Spiel, die an ihrer Oberfläche Salpetersäure-Partikel tragen, die letztlich das Chlor aus den FCKW-Molekülen hebeln. Ab etwa minus 75 Grad beginnt eine verheerende TieffrostChemie, die in Verbindung mit Photo- (UV-Strahlen) und Chlorchemie das Unheil einleitet. 1995 erhalten Molina, Rowland und Crutzen für ihre Entschlüsselung der chemischen Prozesse, die zum Ozonloch im antarktischen Frühling führen, den Chemie-Nobelpreis.
Das Montreal-Protokoll wird bis heute gefeiert, doch die Hurra-Stimmung über die Rettung der Ozonschicht erhält immer wieder Dämpfer. Zwar sinkt die FCKW-Zufuhr und gibt es viele Indizien, dass die Heilung des Ozonlochs um die Jahrtausendmitte abgeschlossen sein könnte. Es gibt aber auch gute Gründe, das Gegenteil für wahrscheinlich zu halten. Denn die FCKW-Ersatzstoffe stören zunehmend die Heilung. Längst geht es nicht mehr nur um den Ozonschwund über der Antarktis. Auch die Arktis ist betroffen. Ein wesentlicher Faktor liegt jedoch überraschenderweise im Klimawandel. Was für ein Paradoxon: Die globale Erwärmung verursacht mancherorts jene Minusgrade, die Voraussetzung für einen Ozonabbau sind.
Zurück zum Montreal-Protokoll, das langlebige chlor- und bromhaltige Chemikalien wie FCKW – einige Verbindungen haben eine Lebensdauer von über 600 Jahren – reguliert. Nicht betroffen sind jedoch kurzlebige „Problem-Moleküle“, die innerhalb von sechs Monaten in der Atmosphäre abgebaut werden. So berichtet ein britisch-chinesisches Forschungsteam im Magazin Nature
Communications, dass sich der Ausstoß von Dichlormethan (eines Lösungsmittels) in China binnen acht Jahren fast verdreifacht hat. Das könne die Heilung des Patienten um bis zu 30 Jahre verschieben, schreibt die Gruppe um Minde An von der Universität Peking. Andere Studien hatten bereits darauf hingewiesen, dass der globale Ausstoß dieser Substanz seit den 2000er Jahren deutlich gestiegen war: von 637 000 Tonnen im Jahr 2006 auf über eine Million Tonnen 2017. Inzwischen sei China, so die Forscher, für den größten Teil der globalen Dichlormethan-Emissionen verantwortlich. Die stammen hauptsächlich aus dem stark industrialisierten Nordosten des Landes. Ein anderer Dichlormethan-Motor ist Indien: die Emission stieg von 2008 bis 2016 von 20 300 auf 96500 Tonnen.
Da die Stoffe, die FCKW und andere längst verbotene Substanzen ersetzen sollen, häufig nicht weniger problematisch sind als diese Substanzen selbst, wurde das MontrealProtokoll 2016 mit der sogenannten „Kigali-Änderung“nachgeschärft. Denn die Ozonkiller wirken in der Troposphäre, ein Stockwerk unter der Stratosphäre, als äußerst potente Treibhausgase. Ein FCKW-Molekül heizt die Lufthülle wie 13000 CO2-Moleküle auf. Ein Drittel des globalen Temperaturanstiegs zwischen den 1950er Jahren und 2005 sei allein, so eine Studie in Nature
Climate Change, von FCKW-Verbindungen verursacht. Insofern bedeutet jeder Erfolg für mehr Ozon in der Höhe auch weniger Erwärmung.
Weil das Ozonloch über der Antarktis bei bestimmten meteorologischen Konstellationen immer wieder zu alter Größe aufreißt und der FCKW-Gehalt der Atmosphäre langsamer sinkt als nach dem Montreal-Protokoll hochgerechnet, keimt der Verdacht, dass in einigen Erdwinkeln das Montreal-Protokoll und „Kigali“ignoriert werden. Nach möglichen Sündern und illegalen Quellen fahnden die amerikanische National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) und das internationale Messnetzwerk Advanced Global Atmospheric Gases Experiments (AGAGE). Dabei werden sie zunehmend unterstützt von Satelliten, die mit sensiblen Sensoren um die Erde rotieren.
2018 berichten NOAA-Forscher in Nature von ihrer Entdeckung: Sie hatten hohe Werte der längst verbotenen Chemikalie Trichlorfluormethan (CFC-11) gemessen. Der NOAA-Forscher Stephen Monzka notiert: „Es war das Überraschendste und Schockierendste, was ich in meiner gesamten Berufslaufbahn erlebt habe“– und es trat detektivische Aktivitäten los. Die Umweltschutzorganisation Environmental Investigation Agency (EIA) ermittelt, die New York Times
(NYT) auch. Die Spur führt nach China. Die NYT berichtet über chinesische Fabriken, die Isolierungen für Kühlschränke und Gebäude produzieren – und zitiert einen Fabrikbesitzer: „Wir hatten die Wahl zwischen dem billigeren Schaummittel, das schlecht für die Umwelt ist, und dem teuren, das besser ist. Wir haben das billigere gewählt, nur so haben unsere Firmen überlebt.“Doch der China-Fund erklärt nur etwas mehr als die Hälfte der illegalen Schadfracht in die Atmosphäre. Die Detektivarbeit geht also weiter.
So umständlich und zeitverzögernd die Entdeckung eines Ozonlochs, wie geschildert, in die Welt kam, so kompliziert sind die Zusammenhänge zwischen dem menschengemachten Treibhauseffekt und der hauchzarten, stratosphärischen Ozonschicht. Die Wissenschaft hat bedrohliche Zusammenhänge identifiziert und die Weisheit, dass in der Atmosphäre alles mit allem zusammenhängt, um einige Lektionen erweitert. Erstens: Die Treibhausgase in der bodennahen Troposphäre blockieren die Wärmeabstrahlung der Erde; sie verhindern
damit aber auch, dass die Wärme die Stratosphäre durchgleitet, womit diese abkühlt. Das begünstigt wiederum die ozonabbauende Tieffrostchemie in der Höhe.
Zweitens: Nicht nur die verbotenen FCKW sind potente Treibhausgase, sondern auch die (erlaubten) chlorfreien Ersatzstoffe. Die Fluorkohlenwasserstoffe (HFC) und andere Ersatzsubstanzen vertiefen die Sorgenfalten der Klimaforscher. So erwärmt eine Tonne Fluoroform (HFC-23) die bodennahe Atmosphäre wie 12000 Tonnen CO2. Ihr Anteil sinkt jedoch nicht (wie es laut Kigali vorgesehen wäre). Das liegt auch daran, dass das Montreal-Abkommen keine Sanktionen vorsieht.
Manchmal gehen nur kleine Fische ins Netz. So sucht man auch nach verbotenen Molekülen in dünner Bergluft, etwa auf dem Schweizer Jungfraujoch. Aus einer AGAGEFahndung ging etwa hervor, „dass in Norditalien zwischen 2008 und 2010 bis zu 56 Tonnen des äußerst klimaschädlichen HFC-23 freigesetzt wurden“, berichtete Spektrum der Wissenschaft.
Dass nun auch über der Arktis ein Ozonloch klafft, beunruhigt die Forscher. Es gebe, so eine in Nature
Communications veröffentlichte Studie des Bremerhavener AlfredWegener-Instituts (AWI), seit 56 Jahren einen deutlichen Trend: die Temperatur im arktischen Polarwirbel in der Stratosphäre sinkt. Das fördert den Ozonabbau. Ausgerechnet während der Mosaic-Expedition, der größten Forschungsmission aller Zeiten in die Arktis, stellten die Wissenschaftler einen Ozon-Rekordverlust fest. 95 Prozent waren im Frühling 2020 einfach weg. Primär aufgrund meteorologischer Bedingungen.
Mosaic-Chef Professor Markus Rex sagt: „Wenn wir unsere Treibhausgas-Emissionen nicht schnell reduzieren, könnte der arktische Ozonverlust trotz des großen Erfolgs des Montreal-Protokolls bis zum Ende des Jahrhunderts immer schlimmer werden, statt der allgemein erwarteten Erholung zu folgen.“Und weil der Polarwirbel kein stationäres Gebilde sei, sondern manchmal Richtung Mitteleuropa drifte, könne es „auch in Deutschland jeweils im Frühjahr zu einigen Tagen mit reduzierter Ozonschicht kommen, was dann Perioden mit erhöhter UV-Strahlung bedeuten kann“– und letztlich wachsende Hautkrebsgefahr.