Saarbruecker Zeitung

Tausende Ukrainer zieht es zurück in die Heimat

- VON DORIS HEIMANN Produktion dieser Seite: Martin Wittenmeie­r, Vincent Bauer Lea Kasseckert

PRZEMYSL (dpa) Schon eine Stunde vor Abfahrt des Zuges nach Kiew hat sich vor dem Bahnhof Przemysl im Süden Polens eine lange Schlange gebildet. Hunderte Menschen warten geduldig vor der Passkontro­lle. Dahinter steht auf einem Sonderglei­s in russischer Breitspur der silberglän­zende Intercity, der sie in die Ukraine bringen soll.

Antonina Belinska schiebt ihren großen roten Rollkoffer voran. Nach Beginn des russischen Angriffskr­iegs vor gut sechs Wochen ist die 40-jährige Kino-Kostümdesi­gnerin aus Kiew geflohen. In Dänemark hat sie Schutz gefunden – und sogar Arbeit in ihrem Fachgebiet. Trotzdem möchte sie jetzt für eine Woche zurück in die Heimat: „Ich kann nicht anders, ich habe einfach große Sehnsucht nach meinem Freund.“Die Sicherheit­slage habe sich gerade etwas entspannt, meint Antonina. „Auch an den Krieg kann man sich gewöhnen.“

So wie sie denken derzeit offenbar viele Ukrainer. Zuletzt hat die ukrainisch­e Armee einige Städte und Regionen vor allem in Norden zurückerob­ert, die Russen konzentrie­ren sich mit ihren Angriffen auf den Osten des Landes. Momentan fliehen weniger Menschen aus der Ukraine als in den ersten Kriegswoch­en – und mehr trauen sich wieder in ihr Land hinein.

Das zeigen die Zahlen des polnischen Grenzschut­zes. Am Sonntag etwa kamen 28 500 Menschen aus der Ukraine in Polen an – ein deutlicher Rückgang im Vergleich zu März. Am selben Tag passierten 19 400 Menschen die Grenze Richtung Ukraine. Insgesamt sind seit Kriegsbegi­nn mehr als eine Viertelmil­lion Männer, Frauen und Kinder von Polen in die Ukraine eingereist.

Am Grenzüberg­ang Medyka zwölf Kilometer östlich von Przemysl ist die Veränderun­g zu spüren. Der große Andrang mit stundenlan­gen Wartezeite­n ist vorbei – zumindest vorerst. Aus der Ukraine kommen kleine Grüppchen von Geflüchtet­en. Ihre Zahl hält sich fast die Waage mit denjenigen, die nach Osten in die Ukraine unterwegs sind.

Vor dem Bahnhof in Przemysl kommt die Schlange der Passagiere für den Zug nach Kiew langsam voran. Rentner Vitalij (73) will in seine Heimatstad­t Tschernihi­w. Am 20. März ist er mit seiner Frau, seiner Tochter und drei Enkelkinde­rn nach Polen geflohen. Die Familie ist in einem Kloster im südpolnisc­hen Tuchow untergebra­cht. Doch Vitalij kehrt nun allein zurück. „Ich muss Kartoffeln pflanzen. Mein Haus steht noch, das vom Nachbarn haben sie bombardier­t.“Er habe es nur schlecht ausgehalte­n, „fremdes Brot“zu essen, sagt der alte Mann über seine Zeit in Polen. Und fügt fast trotzig hinzu: „Zuhause ist es immer besser.“

Auch Tamara (70) und ihre Tochter Irina (42) wollen nach Kiew zurück. Anfang März sind sie nach Polen gekommen. Die Menschen im Nachbarlan­d hätten sie mit großer Gastfreund­schaft aufgenomme­n. „Hier ist es ruhig, es fliegen keine Granaten. Aber es ist eben kein Zuhause“, sagt Tamara über Polen. Und Irina erzählt, der Chef des Schönheits­salons, in dem sie in Kiew als Kosmetiker­in arbeitete, habe schon alle Angestellt­en gebeten, wieder zurückzuke­hren, weil der Betrieb wieder losgehe.

Greg aus Michigan trägt einen riesigen Rucksack auf dem Rücken und zieht zwei schwere Taschen im Camouflage-Look hinter sich her. Sechs Jahre habe er in der US-Armee gedient, auch in Afghanista­n sei er gewesen, erzählt der 27-Jährige mit dem dunklen Vollbart. Jetzt will er in der Ukraine kämpfen. „Ich möchte das ukrainisch­e Volk von dem Bösen befreien, das Putin ihm antut.“

Auch John aus North Carolina will die Ukraine von etwas befreien – von den Minen und Blindgänge­rn, die dort herumliege­n. Der 69-Jährige, der seinen Nachnamen lieber für sich behält, arbeitet für die amerikanis­che Nicht-Regierungs­organisati­on „Bombenents­chärfer ohne Grenzen“.

Zusammen mit anderen Spezialist­en wolle er der ukrainisch­en Armee helfen, nicht detonierte Kampfmitte­l unschädlic­h zu machen. Am gefährlich­sten seien die Sprengfall­en, die die Russen in vielen Häusern an scheinbar harmlosen Gegenständ­en angebracht hätten. „Die sind selbstgeba­stelt. Da weiß man nie genau, wie sie funktionie­ren“, sagt der Sprengstof­fexperte. Dann steigt er als einer der letzten in den Zug.

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