Prozess gegen Pathologen aus St. Ingbert gestartet
Thomas H. soll falsche Krebsdiagnosen gestellt haben – mit gravierenden Folgen. Nun steht er vor dem Landgericht.
SAARBRÜCKEN (fu/mju) Auf die Frage nach seinem Beruf antwortet Thomas H. knapp: „Arzt.“Doch seine Zulassung als Mediziner hat der 63-Jährige verloren. Nun sitzt der Pathologe als Angeklagter in Saal 38 des Saarbrücker Landgerichts. Mit wildem Haar und forschendem Blick. Rätselhaft ist an diesem Montag, in welchem Zustand er vor dem Schwurgericht erschienen ist. Nach Angaben seines Verteidigers, Johannes Berg, wurde der angeblich suchtkranke Mann für den Prozessauftakt „fitgemacht mit Medikamenten“.
Der Angeklagte betrieb in St. Ingbert von 2008 bis 2019 ein eigenes Institut. Unter dem Mikroskop untersuchte er Gewebeproben auf Tumore. In sieben Fällen sollen H. „gravierende Fehldiagnosen“unterlaufen sein. So steht es in der Anklage, die Oberstaatsanwältin Christina Mauger vor dem Schwurgericht verliest.
Für die Betroffenen hatten die offenbar falschen Krebsdiagnosen massive Folgen. Es geht vor dem Landgericht um schwere Operationen und eine Chemotherapie, die nicht hätten stattfinden müssen. Eine Patientin sei durch Narben am Bauch „dauerhaft entstellt“, erklärt die Oberstaatsanwältin. Eine andere Frau trägt Spuren im Gesicht davon. Ihr seien „ohne medizinische Indikation“der Oberkiefer und der Gaumen entfernt worden.
In einem Fall beschuldigt die Staatsanwaltschaft den Pathologen der Körperverletzung mit Todesfolge: Ein Patient verstarb nach einem laut Anklage nicht notwendigen Eingriff an einer Blutvergiftung mit Multiorganversagen. Hier stehen auch Fehler des Krankenhauses vor und nach der Operation im Raum. Daneben wirft die Anklägerin dem Arzt versuchten Totschlag an zwei Frauen vor. H. sei aufgrund seines Gesundheitszustands und einer „bei Weitem zu hohen Anzahl“an Untersuchungen „nicht in der Lage“gewesen, „den Facharztstandard einzuhalten und eine zutreffende Diagnose zu gewährleisten“, sagt Oberstaatsanwältin Mauger.„Dies war ihm bewusst.“Die möglichen Folgen für die Betroffenen soll H.„billigend in Kauf“genommen haben. Für das Gericht kommt wegen einer möglichen Abhängigkeit des Angeklagten von Alkohol und Tabletten eine verminderte Schuldfähigkeit „in Betracht“.
Der Pathologe erreichte bei seinen Diagnosen eine erstaunliche Quote. Jährlich 50 000 Proben durchliefen die Praxis nach Angaben seines Verteidigers. 60 Stunden will H. wöchentlich gearbeitet haben. Befunde hätte der Pathologe demnach wie im Akkord produziert. Rechtsanwalt Berg, der H. gemeinsam mit Selina Röhrl vertritt, hat auf Basis der Anklage eine Fehlerquote von 0,003 Prozent errechnet. „Natürlich bereut er, dass er Fehler gemacht hat“, sagt Berg. Doch Fehler passierten jedem Menschen. „Es geht hier um die Frage, ob er vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat“, erklärt der Verteidiger die Strategie für seinen Mandanten. Zugleich haben die Anwälte des Pathologen„an manchen Stellen“auch Zweifel,„was den Kausalzusammenhang angeht“. Ob die schweren Folgen also in jedem Fall auf eine mutmaßliche Falschdiagnose zurückzuführen sind.
Thomas H. streitet nicht ab, womöglich unzutreffende Diagnosen gestellt zu haben. Einmal sagt er, dass ein Befund „offensichtlich falsch“gewesen sei. Meistens sucht der Arzt nach fachlichen Erklärungen. Im Kontrast zu seinen Erläuterungen vor Gericht steht das Urteil eines Sachverständigen, der in mehreren Fällen schnell zu anderen Ergebnissen gelangte als der Angeklagte. Angezeigt wurde H. schließlich durch eine Saarbrücker Pathologin. Sie überprüfte zweifelhafte Diagnosen und unterrichtete ihren Fachkollegen schriftlich über Abweichungen. Er habe vermisst, dass die Ärztin „mal persönlich auf mich zugekommen wäre“, verteidigt sich H.
Das Auftreten des Angeklagten stößt bei einer Angehörigen auf Unverständnis. „Ich bin über sein Verhalten mehr als irritiert“, sagt Simone Stutz, die ihren Bruder verloren hat. Die Nebenklägerin sagt über Thomas H.: „Ich finde, er ist sehr abgeklärt, er zeigt keinerlei Reue, keinerlei Verständnis, wie traumatisiert sich die Familien fühlen in dieser Situation, was sie alles erlebt haben.“