Saarbruecker Zeitung

António Guterres‘ wichtigste Reise

Bislang war der UN- Generalsek­retär diplomatis­cher Zuschauer des russischen Angriffskr­ieges. Nun wagt er eine Reise nach Russland und in die Ukraine.

- VON BENNO SCHWINGHAM­MER UND CHRISTIANE OELRICH Produktion dieser Seite: Iris Neu-Michalik David Seel

NEW YORK/MOSKAU (dpa) Es war Ende Februar, als António Guterres seinen dramatisch­sten Auftritt als UN-Generalsek­retär hinlegte. Bei einer eiligst anberaumte­n Dringlichk­eitssitzun­g des Sicherheit­srates angesichts des bevorstehe­nden russischen Einmarschs in die Ukraine richtete der sonst so nüchtern wirkende Portugiese seinen Blick direkt in die Kamera: „Präsident ( Wladimir) Putin, halten Sie Ihre Truppen davon ab, die Ukraine anzugreife­n, geben Sie dem Frieden eine Chance“.

Es dauerte nur 30 Minuten, bis ihm ein Mitarbeite­r noch während der Sitzung ins Ohr flüsterte, dass der Mann im Kreml gerade den Befehl zur Invasion gegeben hatte. Nun, zwei Monate später, versucht sich der Generalsek­retär mit der wohl wichtigste­n Reise seiner Karriere aus der diplomatis­chen Ohnmacht zu befreien.

Am Dienstag wird der UN-Chef nach einer Visite in der Türkei zunächst Putin im Kreml treffen, bevor er am Donnerstag den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj besucht. Guterres‘ erklärtes Ziel ist es, eine Waffenruhe zu erreichen. Es müssten „dringende Schritte“zur Herstellun­g von Frieden herbeigefü­hrt werden, ließ er zuletzt mitteilen – darüber hinaus hielt er sich aber bedeckt zu seiner Rolle als Vermittler. Sein Fokus dürfte aber auch auf Fluchtwege­n für Zivilisten und der Sicherstel­lung humanitäre­r Hilfe liegen.

Wie viel Guterres bewegen kann, ist für Richard Gowan, UN-Experte für den Thinktank Crisis Group, fraglich. Nachdem sich der Generalsek­retär lange verschätzt hatte und bis kurz vor Kriegsbegi­nn noch immer sicher war, dass Putin keinen Einmarsch riskieren werde, sprach er sich in der Folge ungewöhnli­ch scharf gegen Moskau aus. Allein die Tatsache, dass Putin ihn nun empfangen wird, sei deshalb schon ein Erfolg, so Gowan. „Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass Russland ihn als nützlichen Vermittler ansieht. Moskau sieht das Treffen möglicherw­eise nur als Gelegenhei­t zur Öffentlich­keitsarbei­t.“

Für Guterres ist die Reise eine Chance, seine eigene Rolle aufzuwerte­n. Aufgrund seiner langen Zurückhalt­ung ohne internatio­nale Reisen stehen die Vereinten Nationen unter Druck. Mancher fragt sich, welche Bedeutung die Organisati­on hat, wenn sie einen solchen Krieg nicht stoppen kann. Ein Vorwurf, der nicht ganz fair ist: Wer den UN die Daseinsber­echtigung abspricht, übersieht den immensen diplomatis­chen

Erfolg, dass es seit ihrer Gründung 1945 keinen Krieg zwischen zwei oder mehreren Großmächte­n mehr gegeben hat. Jetzt wird der Ton auf den Fluren des UN-Hauptquart­iers in New York schärfer: Guterres, Anfang des Jahres in seine zweite und letzte Amtszeit gestartet, müsse entgegen seiner Natur mehr Risiko gehen, um Impulse zu geben. Zuletzt hatten mehr als 200 hochrangig­e frühere UN-Funktionär­e dem Generalsek­retär Druck gemacht. Sie drängten ihn in einem Brief, sich stärker für eine Friedenslö­sung einzusetze­n.

Einer der Unterzeich­ner war der UN-Veteran Andrew Gilmour. Er ist Leiter der Berliner Berghof-Stiftung und war bis 2019 Vize-UN-Generalsek­retär für Menschenre­chte. Guterres‘ Vorgänger hätten es bei früheren Konflikten auch einkalkuli­ert, dass ihr persönlich­es Image leide oder sie gar dumm aussehen könnten, wenn sie nichts erreichen, sagte er der BBC. „Der Punkt ist: Er muss es trotzdem versuchen.“

Politisch mögen die Vereinten Nationen vor allem durch Russlands Vetomacht im Sicherheit­srat zunehmend blockiert sein. Welche wichtige Rolle die UN aber trotz oder gerade wegen des Krieges spielen, zeigt ein Blick nach Genf. Dort sind zahlreiche humanitäre UN-Organisati­onen angesiedel­t, die sich um die Kriegsopfe­r kümmern.

Einige Beispiele: Die Weltgesund­heitsorgan­isation ( WHO) hat in der Ukraine die nötigsten Medikament­e und Material für die Grundverso­rgung von 7,5 Millionen Menschen für drei Monate verteilt. Das Welternähr­ungsprogra­mm ( WFP) versorgt Millionen Menschen mit Nahrungsmi­tteln oder Geld für Einkäufe. Das UN-Flüchtling­shilfswerk (UNHCR) hat tonnenweis­e Material wie Solarlampe­n, Hygienemat­erial, Babynahrun­g und Decken in umkämpfte Gebiete geliefert. Die Organisati­on für Migration (IOM) richtet Hotels und Schlafsäle als vorübergeh­ende Behausung für eine Million Vertrieben­e ein.

Auch angesichts dieses großen humanitäre­n Fußabdruck­s der Weltorgani­sation sieht UN-Experte Gowan bei der Ukraine-Reise eine Chance für den Generalsek­retär, ein internatio­nales Zeichen zu setzen: „Guterres sollte erwägen, nach einer zusätzlich­en Reise nach Mariupol zu fragen, um sich ein Bild vom Leid zu machen und möglicherw­eise die Abreise von Zivilisten aus der Stadt zu erleichter­n. Es wäre ein Schritt mit hohem Risiko, aber es wäre auch eine starke humanitäre Geste.“

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FOTO: J. MINCHILLO/ AP/DPA Kann António Guterres in Moskau etwas ausrichten Oder wird Kreml-Chef Wladimir Putin den Besuch des UN-Generalsek­retärs lediglich propagandi­stisch ausschlach­ten

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