Rehlinger-Wahl: Echte Freude, falsche Freunde
Es war ein historischer Tag: Anke Rehlinger ist neue Ministerpräsidentin im Saarland. Nicht nur die SPD-Fraktion stimmte für sie, sondern auch die AfD.
SAARBRÜCKEN Ein Hauch von Geschichte wehte am Montagvormittag über die Flure des Hohen Hauses. Das Wort „Zäsur“fiel, als die neue Präsidentin Heike Becker (SPD) die erste Sitzung des neuen Landtags geschlossen hatte und mehrere hundert Gäste zu den Häppchen griffen.
Sozialdemokraten umarmten sich, auch Angehörige der neuen Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD) waren gekommen. Erstmals seit 23 Jahren wird die Landesregierung wieder von der SPD geführt. Der frühere Ministerpräsident Reinhard Klimmt sagte: „Es ist sehr schön, dass wir wieder die gesamte Verantwortung tragen.“
Amtlich ist das seit Montag um 11.12 Uhr: Da hatten die beiden jüngsten Abgeordneten Kira Braun (SPD) und Patrick Waldraff (CDU) die Stimmen ausgezählt und Landtagspräsidentin Becker verkündet, dass auf Rehlinger als neue Ministerpräsidentin 32 Stimmen entfallen sind. Der Rest ging im Jubel und im Applaus der SPD-Abgeordneten unter. 19 stimmten mit Nein.
Anke Rehlinger hatte mit der SPD am 27. März einen fulminanten Wahlsieg errungen und führt nun die bundesweit einzige Alleinregierung an – was auch ihren bundespolitischen Einfluss in der SPD merklich steigern dürfte. Den Amtsinhaber gleich mit absoluter Mehrheit aus dem Sattel zu heben, war im Saarland bis dahin nur Oskar Lafontaine (damals SPD) 1985 und Peter Müller (CDU) 1999 geglückt.
Ihren Amtseid sprach die 46-Jährige mit der freiwilligen Formel „So wahr mit Gott helfe“, auf die im Saarland zwar schon mehrere Minister, aber noch kein Ministerpräsident verzichtet hat. Als erster fiel SPDFraktionschef Ulrich Commerçon Rehlinger mit einem Blumenstrauß um den Hals. Als nächstes gratulierten Alexander Funk (CDU), Rehlingers Vorgänger Tobias Hans (CDU) und Josef Dörr (AfD). Rehlinger sprach von einem „eindeutigen Ergebnis, das mich sehr freut und mir den nötigen Rückenwind für die wichtige Arbeit gibt“.
Über Hans, der ihr nach ihrer Wahl die Staatskanzlei übergab, sagte sie, dies sei kein einfacher Tag für ihn.
„Ich weiß, wie man sich an einem solchen Tag fühlt. Wir haben persönlich gut zusammengearbeitet, das wird sich sicherlich nicht am letzten Tag ändern.“Sicherlich habe man noch „das eine oder andere persönliche Wort miteinander zu wechseln“, aber das bleibe privat.
Es werde „keinen Bruch“mit der Arbeit der bisherigen Landesregierung geben, sagte Rehlinger, sie wolle aber für einen „Aufbruch“sorgen. Die wichtigsten Themen seien Arbeitsplätze, gerechte Bildungschancen, Ausbau der Erneuerbaren Energien und die Pflege. Zuallererst will sie dem Autobauer Ford versichern, dass auch die neue Regierung bereit ist, alles zu tun, um den Standort Saarlouis zu sichern.
Für Gesprächsstoff beim anschließenden Empfang auf den Landtagsfluren sorgte Rehlingers Wahlergebnis: Sie bekam drei Stimmen mehr, als die SPD Abgeordnete stellt. Wo diese Stimmen hergekommen seien, werde man „sicherlich nie“erfahren, sagte Rehlinger. Weit gefehlt!
Die Vermutung, der eine oder andere Christdemokrat könne aus alter großkoalitionärer Verbundenheit für Rehlinger votiert haben, wiesen CDU-Abgeordnete umgehend entschieden zurück – und zeigten auf die AfD-Fraktion. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Josef Dörr bestätigte der SZ, dass seine Fraktion Rehlinger gewählt habe, das habe man vor der konstituierenden Sitzung des Landtags so besprochen. Bundesweit sicherlich ein einmaliger Vorgang, der auch den AfD-Landesvorsitzenden Christian Wirth verwunderte. Genossen kommentierten das Verhalten der AfD mit dem Hinweis, gegen „falsche Freunde“könne man sich nun einmal nicht wehren.
„Wir hoffen, dass sie ein paar Probleme angehen wird“, sagte Dörr. Sein Fraktionskollege Christoph Schaufert sprach von „Vorschusslorbeeren“für Rehlinger. Das Votum sei ein Zeichen, dass es der AfD um Sacharbeit gehe und auch die AfD fair behandelt werden wolle. Außerdem: „Ihre Wahl wäre eh nicht zu verhindern gewesen.“
Für die Abgeordneten hatte der historische Tag mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Christkönig-Kirche nahe dem Landtag begonnen. Im Anschluss eröffnete der Alterspräsident Josef Dörr die konstituierende Sitzung des Landtags. Mit 83 Jahren ist Dörr nicht nur im aktuellen Landtag der älteste, sondern in der gesamten Geschichte des Landtags seit 1947.
Im Gegensatz zum Bundestag, der das Amt des Alterspräsidenten nicht mehr dem an Lebensjahren, sondern an Parlamentsjahren ältesten Abgeordneten zuweist, um einen AfD-Politiker in diesem Amt zu verhindern, hat der Landtag auf eine solche „Lex AfD“verzichtet.
Dörr leitete seine Rede als Alterspräsident damit ein, dass er „weder eine parteipolitische noch eine tagespolitische Rede“halten werde. Stattdessen wollte er an die Bergleute erinnern, die beim Grubenunglück in Luisenthal 1962 und durch gesundheitliche Schäden ums Leben kamen. Sie hätten „ihr Wohlbefinden, ihre Gesundheit und schließlich einen Teil ihres Lebens für uns alle und unseren Wohlstand geopfert“, sagte Dörr. Dazu las er die MundartGeschichte eines Mannes über den Tod seines an Staublunge erkrankten Vaters vor. Erst später kam heraus: Die Geschichte, erschienen vor fast 30 Jahren in einem Neunkircher Heimatbuch, hatte Dörr damals selbst verfasst.
Im neuen Landtag sticht die große SPD-Fraktion mit vielen neuen Gesichtern hervor. Zwölf der 29 Abgeordneten sind noch im Juso-Alter, also unter 35. Die erfahrenen SPDAbgeordneten sind nun fast alle Minister oder Fraktionschef. So kam es, dass die Fraktion mit Heike Becker (46) eine Abgeordnete als Landtagspräsidentin vorschlug, die dem Parlament erst seit zweieinhalb Jahren angehört. Ihre Amtsvorgänger hatten zum Zeitpunkt ihrer Wahl schon deutlich mehr als zehn Parlamentsjahre auf dem Buckel.
Einem guten demokratischen Brauch folgend akzeptierten die übrigen Fraktionen den Vorschlag der SPD-Fraktion. Becker, die bis zu ihrem Landtagseinzug stellvertretende Hauptamtsleiterin der Stadt Neunkirchen war, wurde in offener
Abstimmung einstimmig gewählt.
Sie werde das Amt „mit Demut und großer Freude“ausüben, sagte sie. Der Landtag sei „das Herzstück der Demokratie“im Saarland. Unzufrieden zeigte sie sich mit der Wahlbeteiligung von 61,4 Prozent bei der Landtagswahl. Das nehme die Abgeordneten in die Pflicht, den Bürgern politische Vorgänge näherzubringen und die Bürgerbeteiligung zu stärken. Konkret schlug sie vor, einen „Bürger*innenrat“einzusetzen, der sich mit dem Beitrag des Saarlandes zum Klimaschutz beschäftigen soll. Sie knüpft an ähnliche Überlegungen ihres Vorgängers Stephan Toscani (CDU) an, der Bürgerforen geplant hatte, die wegen der Corona-Pandemie aber nie stattfinden konnten.
Becker regte zudem bessere Transparenz-Regeln und Informationen in „leichter Sprache“an. Einen Schwerpunkt will sie auch bei der Gleichberechtigung setzen: Frauen seien immer noch „strukturell benachteiligt“. „Wir müssen als Politik und Gesellschaft noch einen weiten Weg gehen, um die Repräsentanz von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu stärken“, sagte sie.
Für die Spitze der Landespolitik gilt das seit Montagvormittag nicht. Die beiden höchsten Staatsämter werden nun von Frauen besetzt. Das sei „ein starkes Signal an alle Mädchen und junge Frauen“, sagte Becker. Einer ihrer ersten Termine ist der „Girls’ Day“am Donnerstag im Landtag.