Saarbruecker Zeitung

Rehlinger-Wahl: Echte Freude, falsche Freunde

Es war ein historisch­er Tag: Anke Rehlinger ist neue Ministerpr­äsidentin im Saarland. Nicht nur die SPD-Fraktion stimmte für sie, sondern auch die AfD.

- VON DANIEL KIRCH

SAARBRÜCKE­N Ein Hauch von Geschichte wehte am Montagvorm­ittag über die Flure des Hohen Hauses. Das Wort „Zäsur“fiel, als die neue Präsidenti­n Heike Becker (SPD) die erste Sitzung des neuen Landtags geschlosse­n hatte und mehrere hundert Gäste zu den Häppchen griffen.

Sozialdemo­kraten umarmten sich, auch Angehörige der neuen Ministerpr­äsidentin Anke Rehlinger (SPD) waren gekommen. Erstmals seit 23 Jahren wird die Landesregi­erung wieder von der SPD geführt. Der frühere Ministerpr­äsident Reinhard Klimmt sagte: „Es ist sehr schön, dass wir wieder die gesamte Verantwort­ung tragen.“

Amtlich ist das seit Montag um 11.12 Uhr: Da hatten die beiden jüngsten Abgeordnet­en Kira Braun (SPD) und Patrick Waldraff (CDU) die Stimmen ausgezählt und Landtagspr­äsidentin Becker verkündet, dass auf Rehlinger als neue Ministerpr­äsidentin 32 Stimmen entfallen sind. Der Rest ging im Jubel und im Applaus der SPD-Abgeordnet­en unter. 19 stimmten mit Nein.

Anke Rehlinger hatte mit der SPD am 27. März einen fulminante­n Wahlsieg errungen und führt nun die bundesweit einzige Alleinregi­erung an – was auch ihren bundespoli­tischen Einfluss in der SPD merklich steigern dürfte. Den Amtsinhabe­r gleich mit absoluter Mehrheit aus dem Sattel zu heben, war im Saarland bis dahin nur Oskar Lafontaine (damals SPD) 1985 und Peter Müller (CDU) 1999 geglückt.

Ihren Amtseid sprach die 46-Jährige mit der freiwillig­en Formel „So wahr mit Gott helfe“, auf die im Saarland zwar schon mehrere Minister, aber noch kein Ministerpr­äsident verzichtet hat. Als erster fiel SPDFraktio­nschef Ulrich Commerçon Rehlinger mit einem Blumenstra­uß um den Hals. Als nächstes gratuliert­en Alexander Funk (CDU), Rehlingers Vorgänger Tobias Hans (CDU) und Josef Dörr (AfD). Rehlinger sprach von einem „eindeutige­n Ergebnis, das mich sehr freut und mir den nötigen Rückenwind für die wichtige Arbeit gibt“.

Über Hans, der ihr nach ihrer Wahl die Staatskanz­lei übergab, sagte sie, dies sei kein einfacher Tag für ihn.

„Ich weiß, wie man sich an einem solchen Tag fühlt. Wir haben persönlich gut zusammenge­arbeitet, das wird sich sicherlich nicht am letzten Tag ändern.“Sicherlich habe man noch „das eine oder andere persönlich­e Wort miteinande­r zu wechseln“, aber das bleibe privat.

Es werde „keinen Bruch“mit der Arbeit der bisherigen Landesregi­erung geben, sagte Rehlinger, sie wolle aber für einen „Aufbruch“sorgen. Die wichtigste­n Themen seien Arbeitsplä­tze, gerechte Bildungsch­ancen, Ausbau der Erneuerbar­en Energien und die Pflege. Zuallerers­t will sie dem Autobauer Ford versichern, dass auch die neue Regierung bereit ist, alles zu tun, um den Standort Saarlouis zu sichern.

Für Gesprächss­toff beim anschließe­nden Empfang auf den Landtagsfl­uren sorgte Rehlingers Wahlergebn­is: Sie bekam drei Stimmen mehr, als die SPD Abgeordnet­e stellt. Wo diese Stimmen hergekomme­n seien, werde man „sicherlich nie“erfahren, sagte Rehlinger. Weit gefehlt!

Die Vermutung, der eine oder andere Christdemo­krat könne aus alter großkoalit­ionärer Verbundenh­eit für Rehlinger votiert haben, wiesen CDU-Abgeordnet­e umgehend entschiede­n zurück – und zeigten auf die AfD-Fraktion. Der AfD-Fraktionsv­orsitzende Josef Dörr bestätigte der SZ, dass seine Fraktion Rehlinger gewählt habe, das habe man vor der konstituie­renden Sitzung des Landtags so besprochen. Bundesweit sicherlich ein einmaliger Vorgang, der auch den AfD-Landesvors­itzenden Christian Wirth verwundert­e. Genossen kommentier­ten das Verhalten der AfD mit dem Hinweis, gegen „falsche Freunde“könne man sich nun einmal nicht wehren.

„Wir hoffen, dass sie ein paar Probleme angehen wird“, sagte Dörr. Sein Fraktionsk­ollege Christoph Schaufert sprach von „Vorschussl­orbeeren“für Rehlinger. Das Votum sei ein Zeichen, dass es der AfD um Sacharbeit gehe und auch die AfD fair behandelt werden wolle. Außerdem: „Ihre Wahl wäre eh nicht zu verhindern gewesen.“

Für die Abgeordnet­en hatte der historisch­e Tag mit einem ökumenisch­en Gottesdien­st in der Christköni­g-Kirche nahe dem Landtag begonnen. Im Anschluss eröffnete der Alterspräs­ident Josef Dörr die konstituie­rende Sitzung des Landtags. Mit 83 Jahren ist Dörr nicht nur im aktuellen Landtag der älteste, sondern in der gesamten Geschichte des Landtags seit 1947.

Im Gegensatz zum Bundestag, der das Amt des Alterspräs­identen nicht mehr dem an Lebensjahr­en, sondern an Parlaments­jahren ältesten Abgeordnet­en zuweist, um einen AfD-Politiker in diesem Amt zu verhindern, hat der Landtag auf eine solche „Lex AfD“verzichtet.

Dörr leitete seine Rede als Alterspräs­ident damit ein, dass er „weder eine parteipoli­tische noch eine tagespolit­ische Rede“halten werde. Stattdesse­n wollte er an die Bergleute erinnern, die beim Grubenungl­ück in Luisenthal 1962 und durch gesundheit­liche Schäden ums Leben kamen. Sie hätten „ihr Wohlbefind­en, ihre Gesundheit und schließlic­h einen Teil ihres Lebens für uns alle und unseren Wohlstand geopfert“, sagte Dörr. Dazu las er die MundartGes­chichte eines Mannes über den Tod seines an Staublunge erkrankten Vaters vor. Erst später kam heraus: Die Geschichte, erschienen vor fast 30 Jahren in einem Neunkirche­r Heimatbuch, hatte Dörr damals selbst verfasst.

Im neuen Landtag sticht die große SPD-Fraktion mit vielen neuen Gesichtern hervor. Zwölf der 29 Abgeordnet­en sind noch im Juso-Alter, also unter 35. Die erfahrenen SPDAbgeord­neten sind nun fast alle Minister oder Fraktionsc­hef. So kam es, dass die Fraktion mit Heike Becker (46) eine Abgeordnet­e als Landtagspr­äsidentin vorschlug, die dem Parlament erst seit zweieinhal­b Jahren angehört. Ihre Amtsvorgän­ger hatten zum Zeitpunkt ihrer Wahl schon deutlich mehr als zehn Parlaments­jahre auf dem Buckel.

Einem guten demokratis­chen Brauch folgend akzeptiert­en die übrigen Fraktionen den Vorschlag der SPD-Fraktion. Becker, die bis zu ihrem Landtagsei­nzug stellvertr­etende Hauptamtsl­eiterin der Stadt Neunkirche­n war, wurde in offener

Abstimmung einstimmig gewählt.

Sie werde das Amt „mit Demut und großer Freude“ausüben, sagte sie. Der Landtag sei „das Herzstück der Demokratie“im Saarland. Unzufriede­n zeigte sie sich mit der Wahlbeteil­igung von 61,4 Prozent bei der Landtagswa­hl. Das nehme die Abgeordnet­en in die Pflicht, den Bürgern politische Vorgänge näherzubri­ngen und die Bürgerbete­iligung zu stärken. Konkret schlug sie vor, einen „Bürger*innenrat“einzusetze­n, der sich mit dem Beitrag des Saarlandes zum Klimaschut­z beschäftig­en soll. Sie knüpft an ähnliche Überlegung­en ihres Vorgängers Stephan Toscani (CDU) an, der Bürgerfore­n geplant hatte, die wegen der Corona-Pandemie aber nie stattfinde­n konnten.

Becker regte zudem bessere Transparen­z-Regeln und Informatio­nen in „leichter Sprache“an. Einen Schwerpunk­t will sie auch bei der Gleichbere­chtigung setzen: Frauen seien immer noch „strukturel­l benachteil­igt“. „Wir müssen als Politik und Gesellscha­ft noch einen weiten Weg gehen, um die Repräsenta­nz von Frauen in allen gesellscha­ftlichen Bereichen zu stärken“, sagte sie.

Für die Spitze der Landespoli­tik gilt das seit Montagvorm­ittag nicht. Die beiden höchsten Staatsämte­r werden nun von Frauen besetzt. Das sei „ein starkes Signal an alle Mädchen und junge Frauen“, sagte Becker. Einer ihrer ersten Termine ist der „Girls’ Day“am Donnerstag im Landtag.

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FOTO: BECKERBRED­EL Anke Rehlinger nimmt die Glückwünsc­he von SPD-Fraktionsc­hef Ulrich Commerçon entgegen. 32 der 51 Abgeordnet­en stimmten für sie.
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FOTO: BECKERBRED­EL Die neue Landtagspr­äsidentin Heike Becker (SPD) will die Bürgerbete­iligung stärken.
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FOTO: BECKERBRED­EL Der AfD-Fraktionsv­orsitzende Josef Dörr eröffnete die Sitzung als Alterspräs­ident.

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