Ein Buch über den Inbegriff der frühen Globalisierung
In „China und die Seidenstraße“zeichnet der Sinologe Thomas Höllmann die Geschichte des legendären Netzwerks nach.
SAARBRÜCKEN Es ist ein klingender Name, der Jahrtausende alte Traditionen und damit Geltung und Größe evoziert: „die neue Seidenstraße“. 2013 in China offiziell von Präsident Xi Jinping aus der Taufe gehoben, werden damit Infrastrukturprojekte in mehr als 60 Ländern in Afrika, Asien und Europa tituliert, mit denen China den Ausbau seiner Handelsbeziehungen und Ressourcen betreibt. Man verkauft es als Neuauflage der historischen Seidenstraße, über die das Riesenreich seit 2000 Jahren Handel mit fernen Ländern und Kontinente führte.
Wie die historische Seidenstraße als Frühform der Globalisierung Ostasien seit der Antike mit dem Mittelmeerraum verband und was aus diesem geistigen und wirtschaftlichen Austausch resultierte, zeichnet der Münchner Sinologe Thomas Höllmann in seinem kenntnisreichen Buch „China und die Seidenstraße“nach. Während das Eingangskapitel die 2000-jährige Seidenstraßen-Geschichte umreißt, schlagen die Folgekapitel übersichtlich portionierte, thematische Schneisen: Kapitel zwei ist der Religion gewidmet (mit einem Fokus auf das 2. bis 9. Jahrhundert), Kapitel drei dem Handel (6. bis 10. Jahrhundert), während Höllmann im vierten, interessantesten Block seiner akribischen Studie an Chinas beeindruckenden Wissenstransfer (Schrift, Papier, Druck, Kompass und Porzellan) erinnert, ehe er einen allzu knappen Bogen vom 19. Jahrhundert bis heute schlägt.
1838 tauchte der Begriff „Seidenstraße“in Carl Ritters „Erdkunde“erstmals auf, um damit einen „nördlichen continentalen Weg der Seidenstraße, von China gegen den Westen zur kaspischen See hin“zu bezeichnen. Populär machte den Begriff hundert Jahre später der schwedische Geograf und Reiseschriftsteller Sven Hedin. Mit anderen Worten: Die Namensgebung „Silk Road“, die seither immer wieder Anlass zu exotischen Schwelgereien und Mythenbildungen gab, hat europäische Wurzeln. Überhaupt überwog der Reiseverkehr ins Reich der Mitte. Es verstand sich als Nabel der Welt. Wer außer dem Kaiser Chinas verfügte schon über „ein Mandat des Himmels“?
Insbesondere die Reisediplomatie führte von West nach Ost: Zahllose Gesandtschaften machten dem Hof ihre Aufwartung. Als Tribut hatten sie Gold, Silber, Seide, Straußeneier, Sklaven, Gaukler und Musikanten sowie Tiere aller Art (Nutztiere ebenso wie exotische Exemplare) im Gepäck – bisweilen waren 20 000 Pferde als Tributgaben zu erbringen, um am Hof empfangen zu werden. Umgekehrt blieb chinesische Seide „über Jahrhunderte hinweg die eigentliche Währung in den östlichen Abschnitten der Seidenstraße“. Ein eigenes Ritenministerium mit zahllosen kaiserlichen Beamten regelte in der Ming-Zeit (1368-1644) die Zeremonien und Bankette.
Als „Urvater“der Seidenstraße – die geprägt war von extremsten Klimazonen, eisigen Hochgebirgen (der fast schier unüberwindliche Karakorum-Pass und das Pamirgebirge) und im Sommer mörderisch heißen, im Winter unerträglich kalten Sandwüsten ( Taklamakan und Gobi) – gilt Zhang Qian, der im 2. Jahrhundert vor Christus zweimal gen Westen aufbrach und dabei bis nach Zentralasien kam. Die sogenannten „Westlande“gerieten seither stärker in den Blick des Kaiserreichs. Im Lauf der Jahrhunderte wurden auf den nur selten großen Wasserläufen folgenden Hauptrouten im Gebirge regelrechte Galerien in Felsen gehauen. In den Trockengebieten waren Oasen überlebenswichtig, dazu wurden unterirdische Stollen angelegt, die
„das Wasser unter Ausnutzung des Gefälles vom Fuß der Berge zu den Anbauflächen transportierten“. Unerlässlich waren sichere Unterkünfte: In den islamischen Gebieten waren dies die legendären Karawansereien.
Höllmanns Buch räumt mit dem bei uns gerne gepflegten Mythos auf, wonach historisch bedeutsame Kerntechnologien (ob Bronzeguss oder Wagenbau) maßgeblich aus dem Westen nach China gekommen seien. Vielmehr nahmen wichtige Erfindungen wie die Papierherstellung, der Druck oder der Kompass nachweislich in China ihren Ausgang. Ansonsten überwogen Wechselwirkungen. An Knotenpunkten der Seidenstraße stießen Fremde und Einheimische aufeinander, was – wie heute an Schnittstellen der Globalisierung – „Resilienz und Anpassung, Xenophobie und Weltoffenheit“paarte.
Kaufleute, Gesandte und Missionare, die das Kaiserreich erreichten, benötigten Übersetzer oder aber sie lernten Chinesisch. Dessen Schrift verstand selbst im Mutterland nur eine gebildete Minderheit von bestenfalls zehn Prozent der Bevölkerung zu lesen. Über den (spätestens im 2. Jahrhundert nach Christus von Indien nach China gekommenen) Buddhismus, dessen individualisierende Rückzugslehre dem vorherrschenden, auf Normierung setzenden, elitären Konfuzianismus in China zutiefst widersprach, gelangte die 4000 Jahre alte chinesische Schrift ab dem 8. Jahrhundert nach Christus nach Japan und Korea. Eines von vielen Beispielen gegenseitiger kultureller Befruchtung, das Höllmanns Buch aufzeigt, für das er neueste Erkenntnisse aus archäologischen Funden, Grabbeigaben und chinesische Wandmalereien einbezieht.
Aus Hanf hergestelltes Papier war in China ebenso wie Tusche bereits in vorchristlicher Zeit bekannt. Seit dem 2. Jahrhundert nach Christus existierte eine nach Gewicht, Reißfestigkeit, Porosität und Lichtdurchlässigkeit differierende Bandbreite diverser Papiersorten. Stelen dienten seit den Anfängen des Kaiserreichs (221 vor Christus bis 1912) als Gesetzes- und Überlieferungstexte. Kopien dieser Inschriften wurden früh per Papierabdruck hergestellt. Ab dem 7. Jahrhundert konnten sogenannte Blockschneider bereits hochwertige Drucke prägen, ehe ein halbes Jahrtausend vor Gutenberg in China bewegliche Lettern aufkamen. Allen, die sich für den Mythos Seidenstraße und Chinas jahrtausendealte Kultur interessieren, sei dieses mit zahlreichen Farbtafeln, Karten, historischen Quellen und einem umfangreichen Register versehene kulturgeschichtliche Werk ans Herz gelegt.
Thomas Höllmann: China und die Seidenstraße. Kultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart. C.H. Beck, 454 Seiten, 34 Euro.