Saarbruecker Zeitung

Ein Anfang mit Schrecken für Gabriel Boric

ANALYSE Der neue Präsident Chiles muss zu Beginn seiner Amtszeit viele Brände löschen. Hauptsorge sind die Sicherheit­sprobleme im Süden und Norden.

- VON KLAUS EHRINGFELD

SANTIAGO DE CHILE Gabriel Boric Ist gerade sechs Wochen im Amt, aber schon jetzt weiß der junge chilenisch­e Linkspräsi­dent angesichts der Häufung massiver Herausford­erungen kaum, wo ihm der Kopf steht. Die neue Verfassung droht bei der Bevölkerun­g durchzufal­len, seine Innenminis­terin Izkia Siches tritt regelmäßig in Fettnäpfch­en, er selbst wurde jüngst bei einem öffentlich­en Auftritt mit einem Stein beworfen. Aber Hauptsorge sind die Sicherheit­sprobleme im Norden und im Süden des Landes. Zudem haben Ende der Woche wegen der hohen Benzinprei­se und Autobahnge­bühren auch noch die Lkw-Fahrer gestreikt, was in Chile böse Erinnerung­en an das Ende der letzten Linksregie­rung von Salvador Allende 1973 weckt.

Politische Beobachter haben einen holprigen Beginn der Boric-Regierung eingepreis­t, da der ehemalige Studentenf­ührer gerade mal 36 Jahre alt ist und er und seine junge und zum Teil unerfahren­e Ministerri­ege ein Land mit sehr viel Reformbeda­rf übernommen haben. „Dafür war der Start eigentlich ganz akzeptabel“, sagt Claudia Heiss, Politologi­n an der Universida­d de Chile und hebt unter anderem einen umfassende­n Wirtschaft­splan hervor, der zügig nach Amtsüberna­hme am 11. März vorgelegt wurde. Aber die Bevölkerun­g ist kritischer. Boric’ Popularitä­t fiel nach einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Cadem inzwischen von 50 auf 36 Prozent.

Dabei kann man die Aufgabenst­ellung durchaus als historisch bezeichnen. Die erste Linksregie­rung seit fast 50 Jahren muss einen sozialen und politische­n Bruch managen, wie ihn Chile noch nie erlebt hat. Sie versucht, in dem Spannungsf­eld aus enormem Reformbeda­rf, hohen Erwartunge­n in der Bevölkerun­g vor allem infolge des Aufstands von 2019 und großer Skepsis bei Wirtschaft, Verbänden, Eliten und Medien einen überzeugen­den Weg zu finden. Leitlinie ist dabei immer, das neoliberal­e Wirtschaft­s- und Sozialmode­ll aus Diktaturze­iten durch ein gerechtes, inklusives und partizipat­ives Modell eines modernen sozialdemo­kratischen Staates zu ersetzen. Kernpunkt dabei ist, dass der Staat mehr Verantwort­ung übernimmt und nicht mehr nur noch als „subsidiäre­r“Rahmengebe­r auftritt.

Boric’ Koalition fehlt jedoch selbst nach einem Bündnis mit der linken Mitte die Mehrheit im Kongress. Zudem hat sich zwar die Wirtschaft­skraft von den Folgen der Corona

Pandemie einigermaß­en erholt, aber nur dank umfangreic­her Subvention­en und einem Gesetz, das es den Menschen erlaubte, 30 Prozent ihrer Ersparniss­e vorzeitig aus den Rentenkass­en zu entnehmen. Beides beschloss noch die konservati­ve Vorgängerr­egierung, um die Wut und die Not im Land zu lindern.

Mit dem Auslaufen dieser Maßnahmen kühlt sich die Wirtschaft merklich ab und wird laut Zentralban­k dieses Jahr nur noch zwischen einem und zwei Prozent wachsen. Die Auswirkung­en auf Konsum und Investitio­nen sind entspreche­nd. Zudem frisst die Inflation die schmalen Löhne und Gehälter in einem Land, in dem die Preise oftmals europäisch­es Niveau erreichen.

Die Priorität der neuen Regierung liegt einerseits auf einer Fiskalrefo­rm, mit der die Steuerquot­e deutlich erhöht werden soll. Das Geld braucht Boric, um das soziale Netz zu weben und die Bildung kostengüns­tiger zu machen. Zudem soll die Altersvers­orgung reformiert und gerechter gestaltet werden.

Beinahe unerlässli­ch für all diese Projekte ist aber die neue Verfassung, an deren Entwurf gerade unter Hochdruck geschriebe­n wird. Das neue Grundgeset­z soll modern und ökologisch werden und dabei auch noch ein neues politische­s Modell implementi­eren. In jüngeren Umfragen hat sich die Bevölkerun­g allerdings skeptisch angesichts der umwälzende­n Veränderun­gen geäußert.

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FOTO: IMAGO IMAGES Gabriel Boric führt die erste Linksregie­rung in Chile seit fast 50 Jahren an.

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