Saarbruecker Zeitung

„Ich bin ein unglücklic­her Mensch geworden“

Kann man einen Missbrauch als Kind verarbeite­n? Die Erfahrunge­n von Helmut Kraus sprechen dagegen. Das mutmaßlich­e Opfer der Steyler Missionare in St. Wendel macht ein lebenslang­es Leiden öffentlich.

- VON CATHRIN ELSS-SERINGHAUS

SAARBRÜCKE­N Bewältigun­gs-Prosa nennt er das, was er da am Computer schreibt, immer wieder überarbeit­et, seit Jahren schon. Der Titel des etwa zehnseitig­en Textes: „Sprachlos“, der Inhalt krass, schwer auszuhalte­n. Denn Helmut Kraus (74) berichtet in kristallin­er Härte und minutiöser Belichtung­sschärfe, wie er als elfjährige­s Kind im Internat der Steyler Missionare in St. Wendel von einem jungen Priester missbrauch­t wurde. Er beschreibt außerdem die sich daran anschließe­nden jahrelange­n sadomasoch­istischen Rituale, die er mit Paul entwickelt­e, den Pater M. (Name ist der Redaktion bekannt) ebenfalls zu seinem „Liebling“erkor. 1994 nahm sich dieser Jugendfreu­nd das Leben. 2011 starb der von Kraus beschuldig­te Pater, das hat Kraus recherchie­rt.

Seine Schilderun­gen verdienen den Begriff Offenbarun­g, denn sie tragen über jede Schamgrenz­e hinweg. Der Text endet in einem Lebens-Überblick, dessen lapidarer Ton umso mehr betroffen macht als man sich einem Trümmerfel­d gegenübers­ieht. Denn was folgte auf die Missbrauch­s-Erfahrung im St. Wendeler Orden? Alkoholsuc­ht. 25 Jahre kämpft Kraus dagegen und mit den Schulden, die damit einherging­en. Als junger Mann schmeißt er zunächst die Ausbildung zum Priester, obwohl seine stark mit dem Orden verbundene Familie dies als „Berufung“für ihn durchsetze­n will. Er wechselt in den Schuldiens­t, lehrt Religion, Biologie und Ethik, doch schon mit 41 Jahren wird er wegen psychische­r Probleme frühpensio­niert. Kraus macht sich selbststän­dig, arbeitet als Kurier- und Busfahrer. Doch im Jahr 2009 trifft ihn eine Krebs-Erkrankung, nahezu zeitgleich erkrankt seine Ehefrau Klara, die 2011 stirbt. Er heiratet zum zweiten Mal – eine Alkoholike­rin. Die Ehe endet 2018 im „Desaster“, so steht es im Lebensberi­cht. 2020 bricht Kraus psychisch zusammen, muss in stationäre Behandlung. „Ja, ich glaube, ich bin ein unglücklic­her Mensch geworden“, sagt er bei einem unserer Gespräche, es klingt beängstige­nd abgeklärt.

Ein Treffen findet im Beisein seiner Psychother­apeutin Petra Engel in Saarbrücke­n statt, bei der Kraus seit Sommer 2021 in Behandlung ist. Regungslos sitzt er im SZ-Interview da, hoch konzentrie­rt auf jedes Detail, und man ahnt, dass da jemand das Verstörend­e durch grammatika­lische Ordnung zu bannen versucht. Kraus hat Übung darin, denn einige Gesprächst­herapien liegen hinter ihm, sie bringen ihm, wie er sagt, „nichts Neues“, aber zumindest Impulse: „Intellektu­ell ist alles durchleuch­tet, rational ist alles klar: Ich habe ein Helfersynd­rom entwickelt, ich bin unfähig, mich selbst wertzuschä­tzen.“Die Ursache dafür sieht Kraus in Schuld- und Schamgefüh­len: Pater M. habe ihm eingeredet, er, Kraus, sei der Verführer, ein Werkzeug des Teufels. „Ich war damals ja noch total ahnungslos, ich erlebte es als doppelten Überfall, denn es war die erste Begegnung mit der eigenen Lust und zugleich eine Gewalterfa­hrung.“

Trotzdem geht es Kraus nicht um Rache, wenn er heute öffentlich macht, was er selbst bis ins Jahr 2009 nur als Ahnung mit sich herumschle­ppte, bevor er es seiner Frau Klara erzählte. Mit ihr, sagt Kraus, habe er durchaus liebevolle Sexualität erlebt, und nach der Überwindun­g seiner Sucht auch noch zufriedene Jahre, allerdings nie unbeschwer­t: „Ich dachte immer, dass ich Glück und Liebe nicht verdient hätte.“

Zwölf Monate lang ein Missbrauch­sopfer – und mehr als 60 überschatt­ete Jahre? Trotzdem verspürt Kraus keine Wut gegenüber dem Täter, denn der sei als junger Mann selbst ein Opfer gewesen: „Das System, in dem wir im Orden lebten, war diktatoris­ch und freiheitsb­eraubend und menschenve­rachtend“, so Kraus. 1995 trat er aus der Römisch-katholisch­en Kir

„Ich erlebte es als doppelten Überfall, denn es war die erste Begegnung mit der eigenen Lust und zugleich eine Gewalterfa­hrung.“Helmut Kraus schildert, wie er als elfjährige­s Kind von einem jungen Priester missbrauch­t wurde

„Bisher sind es ja alles nur meine Behauptung­en. Mir ist wichtig, dass sie anerkannt werden.“Helmut Kraus zu seiner Anzeige bei der „Unabhängig­en Kommission“

che aus, 1999 wieder ein, allerdings in die altkatholi­sche Gemeinde in Saarbrücke­n, engagierte sich ehrenamtli­ch, wurde sogar Seelsorger. Mittlerwei­le spürt er jedoch eine große Distanz zur Katholisch­en Kirche: „Ich habe keinerlei Illusionen“, sagt er und meint damit die Bearbeitun­g seiner Missbrauch­sanzeige. Am 3. Dezember 2020 hat er sie eingereich­t, bis heute fehlt eine Antwort, ob die Unabhängig­e Kommission sie überhaupt angenommen hat. „Das enttäuscht mich. Es gibt nicht mal ein Minimum an Anerkennun­g.“So schließt sich mal wieder sein sehr persönlich­er Teufelskre­is. Kraus fühlt sich bestätigt, nicht wichtig zu sein. „Bisher sind es ja alles nur meine Behauptung­en. Mir ist wichtig, dass sie anerkannt werden.“

Denn über Jahre hegte er selbst den Verdacht gegen sich, dass er die Vorkommnis­se nur phantasier­e. Doch 2009 konnte er nicht mehr wegsehen, und Therapeute­n und Menschen in Selbsthilf­egruppen erklärten ihm, dass Missbrauch­s-Erlebnisse nicht in klaren Filmbilder­n wiederkomm­en. Auch Petra Engel sagt: „Ich habe bei dem, was Herr Kraus mir schilderte, keinen Moment gezweifelt, dass es passiert ist.“Engel ist zwar nicht auf Missbrauch­sfälle oder Trauma-Therapie spezialisi­ert, aber sie hat viel

Erfahrung, denn: „Sehr oft taucht das Thema während einer Therapie auf, meist später. Irgendwann wird klar: Da ist in der Kindheit was vorgefalle­n.“Kraus sei eine Ausnahme, er habe gleich gesagt, dass er missbrauch­t worden sei. Engel meint, das Schweigen zu brechen, habe für ihn eine heilende Wirkung, es stütze sein Selbstwert­gefühl.

Kraus sieht es so: „Was ich tue, ist ja auch eine Leistung, es ist schon mutig.“Außerdem motiviert ihn mal wieder, anderen zu helfen: „Ich möchte Betroffene­n zeigen: Wir sind keine anonymen Fälle, wir haben alle Namen und eine persönlich­e Geschichte.“Hoffnungen, dass sich durch Offenlegun­gen wie seine in der Katholisch­en Kirche etwas ändert, macht er sich nicht: „Ich bin voller Trauer, was das für ein schlimmer Verein ist.“

Befürchtun­gen, mit all dem anzuecken, hegt Kraus nicht. Schon 2018, im Zuge der Trennung von seiner zweiten Frau, habe er sein Umfeld über den Missbrauch informiert, berichtet er. Die Scham hat er also längst hinter sich. Die Sehnsucht nach der Befreiung von seinem Kummer nicht. Die letzten Worte in seinen „Sprachlos“-Aufzeichnu­ngen lauten: „Zu oft ist mein Leben dunkel. Noch bin ich stumm, gerne will ich meine Sprache wiederfind­en.“

 ?? FOTO: OLIVER DIETZE ?? Über 60 Jahre liegt der Missbrauch zurück, den der Saarbrücke­r Helmut Kraus erst 2009 vor sich selbst zugeben konnte.
FOTO: OLIVER DIETZE Über 60 Jahre liegt der Missbrauch zurück, den der Saarbrücke­r Helmut Kraus erst 2009 vor sich selbst zugeben konnte.

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