„Ich bin ein unglücklicher Mensch geworden“
Kann man einen Missbrauch als Kind verarbeiten? Die Erfahrungen von Helmut Kraus sprechen dagegen. Das mutmaßliche Opfer der Steyler Missionare in St. Wendel macht ein lebenslanges Leiden öffentlich.
SAARBRÜCKEN Bewältigungs-Prosa nennt er das, was er da am Computer schreibt, immer wieder überarbeitet, seit Jahren schon. Der Titel des etwa zehnseitigen Textes: „Sprachlos“, der Inhalt krass, schwer auszuhalten. Denn Helmut Kraus (74) berichtet in kristalliner Härte und minutiöser Belichtungsschärfe, wie er als elfjähriges Kind im Internat der Steyler Missionare in St. Wendel von einem jungen Priester missbraucht wurde. Er beschreibt außerdem die sich daran anschließenden jahrelangen sadomasochistischen Rituale, die er mit Paul entwickelte, den Pater M. (Name ist der Redaktion bekannt) ebenfalls zu seinem „Liebling“erkor. 1994 nahm sich dieser Jugendfreund das Leben. 2011 starb der von Kraus beschuldigte Pater, das hat Kraus recherchiert.
Seine Schilderungen verdienen den Begriff Offenbarung, denn sie tragen über jede Schamgrenze hinweg. Der Text endet in einem Lebens-Überblick, dessen lapidarer Ton umso mehr betroffen macht als man sich einem Trümmerfeld gegenübersieht. Denn was folgte auf die Missbrauchs-Erfahrung im St. Wendeler Orden? Alkoholsucht. 25 Jahre kämpft Kraus dagegen und mit den Schulden, die damit einhergingen. Als junger Mann schmeißt er zunächst die Ausbildung zum Priester, obwohl seine stark mit dem Orden verbundene Familie dies als „Berufung“für ihn durchsetzen will. Er wechselt in den Schuldienst, lehrt Religion, Biologie und Ethik, doch schon mit 41 Jahren wird er wegen psychischer Probleme frühpensioniert. Kraus macht sich selbstständig, arbeitet als Kurier- und Busfahrer. Doch im Jahr 2009 trifft ihn eine Krebs-Erkrankung, nahezu zeitgleich erkrankt seine Ehefrau Klara, die 2011 stirbt. Er heiratet zum zweiten Mal – eine Alkoholikerin. Die Ehe endet 2018 im „Desaster“, so steht es im Lebensbericht. 2020 bricht Kraus psychisch zusammen, muss in stationäre Behandlung. „Ja, ich glaube, ich bin ein unglücklicher Mensch geworden“, sagt er bei einem unserer Gespräche, es klingt beängstigend abgeklärt.
Ein Treffen findet im Beisein seiner Psychotherapeutin Petra Engel in Saarbrücken statt, bei der Kraus seit Sommer 2021 in Behandlung ist. Regungslos sitzt er im SZ-Interview da, hoch konzentriert auf jedes Detail, und man ahnt, dass da jemand das Verstörende durch grammatikalische Ordnung zu bannen versucht. Kraus hat Übung darin, denn einige Gesprächstherapien liegen hinter ihm, sie bringen ihm, wie er sagt, „nichts Neues“, aber zumindest Impulse: „Intellektuell ist alles durchleuchtet, rational ist alles klar: Ich habe ein Helfersyndrom entwickelt, ich bin unfähig, mich selbst wertzuschätzen.“Die Ursache dafür sieht Kraus in Schuld- und Schamgefühlen: Pater M. habe ihm eingeredet, er, Kraus, sei der Verführer, ein Werkzeug des Teufels. „Ich war damals ja noch total ahnungslos, ich erlebte es als doppelten Überfall, denn es war die erste Begegnung mit der eigenen Lust und zugleich eine Gewalterfahrung.“
Trotzdem geht es Kraus nicht um Rache, wenn er heute öffentlich macht, was er selbst bis ins Jahr 2009 nur als Ahnung mit sich herumschleppte, bevor er es seiner Frau Klara erzählte. Mit ihr, sagt Kraus, habe er durchaus liebevolle Sexualität erlebt, und nach der Überwindung seiner Sucht auch noch zufriedene Jahre, allerdings nie unbeschwert: „Ich dachte immer, dass ich Glück und Liebe nicht verdient hätte.“
Zwölf Monate lang ein Missbrauchsopfer – und mehr als 60 überschattete Jahre? Trotzdem verspürt Kraus keine Wut gegenüber dem Täter, denn der sei als junger Mann selbst ein Opfer gewesen: „Das System, in dem wir im Orden lebten, war diktatorisch und freiheitsberaubend und menschenverachtend“, so Kraus. 1995 trat er aus der Römisch-katholischen Kir
„Ich erlebte es als doppelten Überfall, denn es war die erste Begegnung mit der eigenen Lust und zugleich eine Gewalterfahrung.“Helmut Kraus schildert, wie er als elfjähriges Kind von einem jungen Priester missbraucht wurde
„Bisher sind es ja alles nur meine Behauptungen. Mir ist wichtig, dass sie anerkannt werden.“Helmut Kraus zu seiner Anzeige bei der „Unabhängigen Kommission“
che aus, 1999 wieder ein, allerdings in die altkatholische Gemeinde in Saarbrücken, engagierte sich ehrenamtlich, wurde sogar Seelsorger. Mittlerweile spürt er jedoch eine große Distanz zur Katholischen Kirche: „Ich habe keinerlei Illusionen“, sagt er und meint damit die Bearbeitung seiner Missbrauchsanzeige. Am 3. Dezember 2020 hat er sie eingereicht, bis heute fehlt eine Antwort, ob die Unabhängige Kommission sie überhaupt angenommen hat. „Das enttäuscht mich. Es gibt nicht mal ein Minimum an Anerkennung.“So schließt sich mal wieder sein sehr persönlicher Teufelskreis. Kraus fühlt sich bestätigt, nicht wichtig zu sein. „Bisher sind es ja alles nur meine Behauptungen. Mir ist wichtig, dass sie anerkannt werden.“
Denn über Jahre hegte er selbst den Verdacht gegen sich, dass er die Vorkommnisse nur phantasiere. Doch 2009 konnte er nicht mehr wegsehen, und Therapeuten und Menschen in Selbsthilfegruppen erklärten ihm, dass Missbrauchs-Erlebnisse nicht in klaren Filmbildern wiederkommen. Auch Petra Engel sagt: „Ich habe bei dem, was Herr Kraus mir schilderte, keinen Moment gezweifelt, dass es passiert ist.“Engel ist zwar nicht auf Missbrauchsfälle oder Trauma-Therapie spezialisiert, aber sie hat viel
Erfahrung, denn: „Sehr oft taucht das Thema während einer Therapie auf, meist später. Irgendwann wird klar: Da ist in der Kindheit was vorgefallen.“Kraus sei eine Ausnahme, er habe gleich gesagt, dass er missbraucht worden sei. Engel meint, das Schweigen zu brechen, habe für ihn eine heilende Wirkung, es stütze sein Selbstwertgefühl.
Kraus sieht es so: „Was ich tue, ist ja auch eine Leistung, es ist schon mutig.“Außerdem motiviert ihn mal wieder, anderen zu helfen: „Ich möchte Betroffenen zeigen: Wir sind keine anonymen Fälle, wir haben alle Namen und eine persönliche Geschichte.“Hoffnungen, dass sich durch Offenlegungen wie seine in der Katholischen Kirche etwas ändert, macht er sich nicht: „Ich bin voller Trauer, was das für ein schlimmer Verein ist.“
Befürchtungen, mit all dem anzuecken, hegt Kraus nicht. Schon 2018, im Zuge der Trennung von seiner zweiten Frau, habe er sein Umfeld über den Missbrauch informiert, berichtet er. Die Scham hat er also längst hinter sich. Die Sehnsucht nach der Befreiung von seinem Kummer nicht. Die letzten Worte in seinen „Sprachlos“-Aufzeichnungen lauten: „Zu oft ist mein Leben dunkel. Noch bin ich stumm, gerne will ich meine Sprache wiederfinden.“