Ein Europäer vom Dorf wird 85 Jahre alt
Als Luxemburger aus der Nachbarschaft Triers hat Jacques Santer von Kindesbeinen an ein Gefühl für Europa. Sein Sinn für grenzüberschreitende Netzwerke begleitete ihn ins höchste Amt der EU.
BRÜSSEL (kna) Jacques Santer nannte sich einmal einen besonnenen und ehrlichen Menschen, der weder Leidenschaften noch Heimlichkeiten kenne. Seine arglose Aufrichtigkeit wurzelt an den luxemburgischdeutschen Grenzflüssen Mosel und Sauer, deren enge Windungen beide Länder, ihre Weinberge und Felder, mehr verknüpfen als trennen. Dort erlebte Santer ein verflochtenes Europa, ein Europa der kurzen Wege und der persönlichen Beziehungen. Diese Erfahrung begleitete ihn auch in der großen Politik, als Premierminister von Luxemburg, beim Aufstieg zum Präsidenten der EU-Kommission und bei seinem vorzeitigen Abgang.
Der Krieg lehrte ihn als Kind, am 18. Mai 1937 in Wasserbillig geboren, die Absurdität von Grenzen. Der Vater wurde von deutschen Besatzern deportiert, floh, durchschwamm die Sauer und musste sich zu Hause in der Scheune verstecken. Während auf benachbarte deutsche Städte Bomben fielen, blieb Luxemburg weithin verschont. Dabei war doch alles eine Region. Wenn es hieß: „Wir gehen in die Stadt“, war gemeint: nach Trier. Als längst wieder Frieden war, machte Santer seinem Drang nach einem offenen Europa Luft, indem er zusammen mit anderen Jugendlichen die Zollschranken in Wasserbilligerbrück umriss – zum Leidwesen seines Vaters, eines Polizeibeamten.
Es war die kirchliche Jugendbewegung, die Santer beflügelte und sein christlich-soziales Engagement bis ins Alter bestimmte. Der Einstieg in die Politik erfolgte eher zufällig: Dem jungen Rechtsanwalt bot sich ein Job im luxemburgischen Arbeitsministerium. So wurde Santer 1966 Mitglied der Chreschtlech Sozial Vollekspartei (CSV), 1972 Staatssekretär, dann CSV-Vorsitzender, Minister für Finanzen, Arbeit und Soziales, 1984 erstmals Premierminister.
Den Schritt auf die europäische Ebene markierte aber 1976 die Gründung der Europäischen Volkspartei (EVP) durch Santer und andere Christdemokraten. Im benachbarten Rheinland-Pfalz regierte in jenen Jahren Helmut Kohl (CDU), Ministerpräsident mit höheren Ambitionen. Santer lud ihn gelegentlich nach Luxemburg ein, und Kohl löste die Frage deutscher Entschädigungen für im Krieg zwangsrekrutierte Luxemburger. Kohl schlug Santer 1987 als EVP-Vorsitzenden vor, und Santer warb nach dem Mauerfall 1989 um Vertrauen in die Deutschen. „Ich war immer der Meinung, dass ein kleines Land große Freunde haben sollte“, sagte Santer.
Kohl war ein Freund, und er vergaß nicht. Als 1994 die Suche nach einem neuen EU-Kommissionspräsidenten in ein Patt geriet, brachte er Santer ins Spiel. Dieser stand vor seiner dritten Amtszeit als luxemburgischer Regierungschef, aber Kohl machte ihm in einem Telefonat klar, dass er das Angebot nicht einfach ausschlagen könne. Kohl gab Bedenkzeit bis zum nächsten Vormittag. Santer sagte zu.
Es war, wenn kein vergiftetes Geschenk, so doch keine reine Liebesgabe: Nach dem dynamischen Sozialisten Jacques Delors wünschten die Großen der Europäischen Union einen pflegeleichteren Mann an der Kommissionsspitze. Das Projekt der Euro-Einführung stand an. Die EU war gerade von zwölf auf 15 Mitgliedsstaaten gewachsen; in den kommenden Jahren sollten Beitrittsverhandlungen mit zehn weiteren Staaten beginnen. Auch die Kommission selbst steckte sozusagen in der Pubertät und wollte politisch eigenständiger werden.
Gegen Ende des Mandats von Santer kam es zu einem Vorfall, über dessen schuldhafte und tragische Seiten die Ansichten auseinandergehen. Im zweiten Halbjahr 1998 war gegen mehrere Kommissare, vor allem Forschungskommissarin Edith Cresson, der Vorwurf der Günstlingswirtschaft lautgeworden. Santer stellte sich zunächst hinter die Französin; als der Druck größer wurde und ein Untersuchungsbericht negativ ausfiel, trat die Kommission im März 1999 geschlossen zurück.
Santers weitere Laufbahn verlief still. Bis 2004 hatte er einen Sitz im Europäischen Parlament und hielt sich im Hintergrund. Vielleicht als Zeichen der Rehabilitation wurde er 2002 als luxemburgischer Vertreter in den Konvent zur Reform der Europäischen Union entsandt. Die EU-Bischofskommission COMECE berief Santer mit 24 weiteren ka
„Ich war immer der Meinung, dass ein kleines Land große Freunde haben sollte.“Jacques Santer über die Beziehung zwischen Luxemburg und Deutschland in den 1980er Jahren
tholischen Politikern 2006 in einen Weisenrat zu Grundfragen der europäischen Einigung.
Die Folgerungen des Berichts zur Korruptionsaffäre nannte Santer damals ungerecht und überzogen. Die Leistungen seiner Kommission sah er nicht gewürdigt. Jahre später sprach er in einem Interview von einer unterschätzten „Seilschaft“zwischen Cresson und Frankreichs Präsident Mitterrand: „Hinterher ist man immer gescheiter.“An anderer Stelle erklärte er, die Kommission sei Opfer ihrer eigenen Transparenzpolitik geworden, „weil wir ja selbst die Fälle aufgedeckt haben“. Im Untersuchungsbericht hieß es, es sei zusehends schwierig geworden, jemanden zu finden, der auch nur das geringste Verantwortungsgefühl gehabt habe.