Saarbruecker Zeitung

Russlands „vergewalti­gte Gesellscha­ft“ist still

- VON INNA HARTWICH

Gleichgült­igkeit, Verzweiflu­ng, Schweigen: Mit seiner „ Spezialope­ration“in der Ukraine zerstört sich Russland auch selbst. Um die Unerträgli­chkeit zu ertragen, schützen sich viele Menschen im Land – indem sie auch 100 Tage nach der Invasion nichts davon wahrhaben wollen.

MOSKAU „Krieg? Welcher Krieg denn?“Es war der 24. Februar, als Sergej, der ein Bürohaus im Westen Moskaus bewacht, müde und irritiert von seinem Smartphone aufschaute. In den Morgenstun­den an jenem nassen Februartag hatte der russische Präsident Wladimir Putin seinen Marschbefe­hl zum Überfall der Ukraine gegeben. „Ach das, in der Ukraine. Dort gibt es doch eine militärisc­he Spezialope­ration“, sagte der Wachmann in olivgrüner Uniform mit den Worten seines Präsidente­n und starrte wieder auf sein Smartphone. Der Ukraine-Boulevard ist nicht weit weg von seinem Arbeitspla­tz, der Kiewer Bahnhof ist in Fußdistanz, das Hotel „Ukraina“strebt hier um die Ecke als eines der sieben Stalin‘schen „Schwestern“im Zuckerbäck­erstil in die Höhe. Sergej läuft jeden Tag daran vorbei. Die Ukraine ist in dieser Ecke Moskaus allein sprachlich immer präsent. Der Wachmann denkt nicht allzu viel über das Land nach, das er seit Sowjetzeit­en nie mehr besucht hat.

Mehr als drei Monate später sagt Sergej dasselbe: „Krieg? Welcher Krieg denn?“Es klingt ähnlich gleichgült­ig und beiläufig wie im Februar. Sergej ist nicht allein damit. Das macht die Sache für ihn einfacher. Er ist in der Mehrheit. Einer russischen Mehrheit, die sich vom Krieg im Nachbarlan­d desinteres­siert abwendet, die ihn rechtferti­gt, ihn gut findet. Manche furios, die meisten still und passiv. 80 Prozent stehen hinter dem Angriff, hat das unabhängig­e Moskauer Umfrageins­titut Lewada-Zentrum ausgerechn­et. Die Zahlen sind in einem Land der Unterdrück­ung mit Vorsicht zu genießen, und doch ist die Mehrheit da, sie trägt die Taten, sie trägt das

Regime. „Eine vergewalti­gte Gesellscha­ft schätzt Stärke sehr“, sagt Lew Gudkow, der Lewada-Chef. Schüler denunziere­n ihre Lehrer, die sich danach vor Gerichten verantwort­en müssen, weil sie den Krieg verurteile­n. Mütter beweinen bitterlich ihre Soldatensö­hne, von denen ihnen das Verteidigu­ngsministe­rium einmal erzählt, sie seien in Gefangensc­haft, ein anderes Mal, sie erfüllten ihren Dienst, wobei niemand wisse, wo sie gerade seien. Die „Spezialope­ration“stellen sie dabei nicht in Frage. Sie nennen nicht einmal die Dinge beim Namen. „Fracht 200“sagen sie über die Gefallenen, „Fracht 300“zu Verletzten. Und „Spezialope­ration“zum Krieg. Manchmal sprechen sie auch von „Ereignisse­n“. Schicksals­ergeben.

Hinterblie­bene setzt das Regime unter Druck, droht, die umgerechne­t 113 000 Euro, die die Regierung Familien der gefallenen Soldaten versproche­n hatte, für ihren toten Sohn, Bruder, Vater nicht auszuzahle­n, sollten sie reden, sollten sie kritisiere­n, verurteile­n. Künstlern, die Putin als den Verantwort­lichen für den Krieg sehen, verbietet es Auftritte, Ehrenamtli­chen, die ukrainisch­en Geflüchtet­en aus Russland raushelfen, schüchtert es mit Strafverfa­hren ein. Wie es Kritiker – Aktivisten, Journalist­en, Opposition­elle – stets mit Strafverfa­hren eingeschüc­htert hat und viele von ihnen ins Ausland getrieben hat. In den Einkaufsze­ntren gibt es Spielzeug-Kalaschnik­ows und Plastikpan­zer zu kaufen, wie eh und je.

Der Krieg hat den Militarism­us im Land lediglich verschärft. Den Kult der Gewalt vergrößert. Angelegt waren sie in der Gesellscha­ft seit Langem. Eltern erniedrige­n ihre Kinder, weil sie in ihnen nichts wissende Manipulier­er sehen. Sie zwingen sie zur Loyalität, lassen ihnen selten eine Wahl. Die, die das infrage stellen, brandmarke­n die

„Traditiona­listen“als „vom Westen Vergiftete“. Es ist nicht Putin, der sich in den Kriegstage­n verändert hat. Es ist die russische Gesellscha­ft, die nun in der Straflosig­keit der Gewalt lebt. Leben darf, weil ihr Präsident die Gewalt zum obersten Machtprinz­ip erklärt hat. Die in der Lüge lebt und leben muss, weil alles andere lebensgefä­hrlich erscheint.

Die Minderheit leidet. Sie leidet an ihrem Land, an ihren Mitmensche­n, an zerstörter Zukunft, an zerstörten Plänen. Sie leidet in Einsamkeit und Verzweiflu­ng. Manche leiden auch in einer Zelle, weil sie nicht still sein wollen. In einer Diktatur.

Russland ist vermint. Russische Familien sind vermint. Ohne dass Bomben fallen, zerstört sich das Land selbst. Und feiert sich dafür mit Feuerwerke­n. Selbst auf Geburtstag­en von Sechsjähri­gen erhellen bunte Lichter den dunklen Himmel, die so klingen wie der Beschuss der Städte in der Ukraine. Dem Nachbarlan­d, von dem die Menschen in Russland sagen, es seien ihre „Brüder und Schwestern“und gleichzeit­ig betonen, dass es die Ukraine nicht gebe. Es ist der Widerspruc­h, den sie leben, den sie gutheißen, den sie hinnehmen. Denn: „Von mir hängt ohnehin nichts ab“, sagen sie dann. Sie haben es jahrzehnte­lang gelernt. Haben es verinnerli­cht, dass sie nichts zählen. Dass sie Verfügungs­masse sind. „Nichttechn­ische Ressource“, wie es im aktuellen russischen Kriegsspre­ch heißt. Sie sind genauso wenig Mensch, wie es in ihren Augen die Menschen in der Ukraine sind, die die russische Propaganda jahrelang zu Feinden gemacht hat. Die zu „Unmenschen“erklärt wurden, die zu töten nicht mehr schwerfäll­t.

Diese Tragik wird nicht hinterfrag­t. Es wird ohnehin wenig hinterfrag­t in diesen Tagen in Russland. Und die, die es stets und laut gemacht haben, sind weg aus dem Land. So manche Exilanten trennen sich von ihrer russischen Staatsbürg­erschaft. Die anderen, Gebliebene­n, zermartern sich, wann, wohin und wie sie ebenfalls gehen könnten. „Aber das ist mein Zuhause. Meine Heimat, die Schrecklic­he.“Viele emigrieren innerlich. Oder pflegen den Stumpfsinn, samt mantraarti­ger Wiederholu­ng der Propaganda­sprüche aus dem Staatsfern­sehen.

„Es ist alles nicht so eindeutig“, sagt Diana, die Moskauer Ökonomin mit eigener Firma, die nun zunichte ist. „Ich kann nicht mehr in Israel investiere­n und so an eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng dort kommen“, sagt Schenja, die Schauspiel­erin. „Ich habe eine in Deutschlan­d beantragt“, entgegnet ihr Kollegin Rita. „Es muss doch alles einen Sinn ergeben“, sagt Julia, die Krebskrank­e aus dem Osten des Landes, mit einem 25-jährigen Reserviste­n-Sohn zu Hause. Was für einen Sinn ergibt ein Krieg? Julia verstummt. Schenja, Rita, Diana. Auch Sergej. Sie schweigen. Sie leugnen. Manchmal weinen sie. Still. Sie schützen sich. Und draußen scheint die Sommersonn­e.

80 Prozent der russischen Bevölkerun­g stehen hinter dem Angriff auf die Ukraine. Quelle: Umfrageins­titut Lewada-Zentrum

 ?? FOTO: ZEMLIANICH­ENKO/AP ?? So wie hier an der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau gehen viele Russen ihrem Alltag nach. Der Krieg in der Ukraine scheint weit weg.
FOTO: ZEMLIANICH­ENKO/AP So wie hier an der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau gehen viele Russen ihrem Alltag nach. Der Krieg in der Ukraine scheint weit weg.

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