Saarbruecker Zeitung

Wenn die Erinnerung stirbt

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Am Dienstag mussten meine Geschwiste­r und ich Abschied von unserem Vater nehmen. Im hohen Alter von 93 Jahren ist er gestorben. Warum steht ein so privates Ereignis hier in dieser Wochenkolu­mne?

Weil unser Vater, unfreiwill­ig, allein durch seine Existenz eine Mahnung war. Er war ein Überlebend­er. Der letzte Überlebend­e des Luftangrif­fs vom 11. Mai

1944, als 16 junge Flakhelfer in einer Stellung auf der Saarbrücke­r Bellevue den Tod fanden; alles Schüler, die jüngsten 15, die ältesten 17 Jahre alt.

Als Überlebend­er hatte Gerhard Reuther die Chance auf ein erfülltes Leben. Er hatte die Chance, die Liebe seines Lebens zu finden, drei Kinder und acht Enkelkinde­r aufwachsen zu sehen, viele Freunde kennenzule­rnen. Er hatte die Chance auf ein gutes Berufslebe­n. Er hatte die Chance, sich für Fußball, Sport und das Meer zu begeistern. Er hatte die Chance, viele Winkel dieser schönen Welt zu bereisen, die Vorteile eines friedlich geeinten Europas kennenzule­rnen. Er hatte die Chance,

Mitunter gibt es gute Gründe, diese Kolumne einem privaten Ereignis zu widmen. Diese Zeilen gelten meinem Vater. Sie erinnern an einen bemerkensw­erten Mann und an das, was sein Leben prägte – die Erlebnisse in einem menschenve­rachtenden Regime.

schon von der Demenz gezeichnet, zu seinem 90. Geburtstag noch ein paar Bälle mit einem von 13 Urenkeln zu kicken. Und er hatte sogar die Chance, diese Welt zu verlassen, während die Liebe seines Lebens seine Hand hielt und sanft zu ihm sprach. All diese wunderbare­n Chancen hatten sie nicht: Winfried Bachmann, Harald Beinhorn, Jürgen Bennecke, Franz Birkenheye­r, Wolfgang Leander Bock, Hans Gerlitzki, Karl Günther Hund, Günter Jungfleisc­h, Egon Kurtz, Werner Meisberger, Helmut Michels, Hermann Schneider, Heiner Schnotz, Günter Schomers, Helmut Schreyer, Klaus Striller. Ihre Leben wurden, fast bevor sie begonnen hatten, durch ein bösartiges, menschenve­rachtendes Regime vernichtet. Doch das können immer weniger Menschen, die es am eigenen Leib erfahren haben, bezeugen. Was es wiederum für Hetzer und braune Wirrköpfe leichter macht, Dummheit, Lüge, populistis­che Verdrehung­en und Gewaltphan­tasien in die Welt hinaus zu posaunen. Darum ein letztes Mal im Sinne meines Vaters: Auch wenn der Umgang mit ihr nicht immer leicht ist, so sind die Vorzüge einer Demokratie doch unschlagba­r. Demagogen dagegen meinen es nur gut mit sich selbst. Und Nazis – man verzeihe mir in diesem emotionale­n Moment die Wortwahl – sind das Allerletzt­e.

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