Kraftvoll, positiv und herzlich
Die israelische Star-Sopranistin Chen Reiss macht am Freitag Station im Saarland und singt bei den Musikfestspielen in der Abteikirche Tholey, zusammen mit Intendant Bernhard Leonardy.
SAARBRÜCKEN So viel vorweg, das Konzert ist ausverkauft. Mit der Sopranistin Chen Reiss hat Bernhard Leonardy eine Idealbesetzung für das Motto der diesjährigen „Musikfestspiele Saar“gefunden, den musikalischen Bogen zwischen Orient und Okzident. Chen Reiss wurde in Israel geboren, die Großeltern väterlicherseits kamen aus Ungarn und fühlten sich in der deutschen Kultur beheimatet, die Eltern ihrer Mutter waren aus der Türkei und Syrien. Sie selbst lebt im Dreieck zwischen Wien, London und Tel Aviv. Das Judentum ist der kulturelle Hintergrund, die Heimat, in der das Neue Testament mit Johann Sebastian Bach, Mozart oder Fauré großen spirituellen Raum einnimmt. Man muss nicht im strengen Sinne religiös sein, um von geistlicher Musik angesprochen zu werden, die betörende Sopranarie „Laudate Dominum“von Mozart wies der jungen Frau den Weg zum Gesang. 2014 sang sie auf Einladung von Papst Franziskus bei der weltweit übertragenen Weihnachtsmesse vor mehr als 10 000 Menschen im Petersdom die Arie „Et incarnatus est“aus Mozarts Großer Messe in c-Moll.
Die Mutter zweier Töchter engagiert sich mit einer Stiftung dafür, dass arabische und israelische Kinder, deren Eltern sich das nicht leisten können, Musikunterricht erhalten.
Musik spielt früh eine große Rolle, Reiss’ Mutter ist klassische Sängerin. Chen Reiss träumt als junges Mädchen von einer Karriere als Ballerina und lernt Klavier spielen. Ab dem Alter von 14 Jahren nimmt sie Gesangsunterricht und merkt dank Mozart, das ist es. Kaum erwachsen muss sie zum israelischen Militär und ist nach drei Wochen Grundausbildungsdrill froh, sich auch im Militärorchester patriotisch einbringen zu können. New York lernt sie später als hartes Pflaster kennen, die Konkurrenz schläft nicht, das stählt. Sie wird nach Abschuss des Gesangsstudiums in München engagiert, ihre erste Rolle an der Bayrischen Staatsoper ist der „Oscar“in Verdis „Maskenball“. Der berühmte Dirigent Zubin Mehta hatte sie zum Gang nach Deutschland ermutigt. Bernhard Leonardy hört in Chen Reiss’ klarem Sopran eine außergewöhnliche „Färbung“, etwas kraftvoll Positives und Herzliches, „ihre Art setzt sich eben in ihrer Stimme fort“, sagt er. Die Abtei in Tholey mit ihren neuen Fenstern von Gerhard Richter und der afghanisch-deutschen Künstlerin Mahbuba Maqsoodi ist der passende Raum für die Universalität des Versöhnungsgedankens.
Das Programm des Konzerts ist spirituell, ladinisch ist dabei nur ein Lied. Chen Reiss singt Lieder von Fanny Hensel, Puccini, Rachmaninov, Saint-Saëns, Fauré und
Bach. Bernhard Leonardy spielt die Orgel dazu – „geistlich, klassisch, romantisch, 20. Jahrhundert“und natürlich, „was mit Orgel gut klingt.“Fanny Hensel sieht die Sopranistin kompositorisch in einer Reihe mit
Schumann und Fannys berühmtem Bruder Felix Mendelssohn, sie hat Lieder der beiden kürzlich mit dem Jewish Chamber Orchestra in München aufgenommen („Fanny & Felix“).
Chen Reiss spricht „viereinhalb Sprachen“: Hebräisch, Englisch, Deutsch, Italienisch und ein bisschen Französisch. Latein und Spanisch versteht sie. Der Text sei der Schlüssel zu einem Stück. „Wenn ich auf der Bühne stehe, geht es nicht um meine Gesangstechnik, wichtig ist die Botschaft.“Sie übe, und der Text ist natürlich auswendig gelernt, die Technik hart erarbeitet, der ganze Körper muss mitspielen, das Atmen ist eine eigene Kunst, aber „wenn ich auf der Bühne stehe, soll es klingen, als ob mir die Sätze in dem Moment einfielen, ich sie zum ersten Mal sagte“. So wie spontan gesprochen. Man versteht, wie wichtig es ihr ist, zu verstehen, was sie singt. Anders als andere empfindet sie die vielen Konsonanten der deutschen Sprache nicht als Nachteil, „sie bringen die Stimme nach vorn.“Die Sängerin gibt keiner Sprache den Vorzug, aber „Carmen“oder „La Bohème“auf Deutsch erscheinen ihr widersinnig, denn jede Sprache trage ihre eigene Musik in sich. Bizet oder Puccini haben ihre Musik mit ihrer Sprache im Ohr komponiert, im Einklang mit Sprachmelodie und Rhythmus.
Chen Reiss kommt gerade aus Berlin, sie hat dort mit dem Konzerthausorchester Lieder von Franz Schreker aufgenommen, von Tholey wird sie nach Bremen fahren, zu einem Open-Air-Gala-Abend mit Opernarien. Besonders freut sie sich, in Stuttgart dann erstmals „Das Paradies und die Peri“von Robert Schumann zu singen – „ein Oratorium, aber nicht für den Betsaal, sondern für heitre Menschen“. Im Sommer steht sie in Linz mit John Malkovich auf der Bühne, der in dem Musiktheaterprojekt „The infernal comedy“den Serienmörder Jack Unterweger verkörpert. Man könnte ihr nachreisen.
„Wenn ich auf der Bühne stehe, geht es nicht um meine Gesangstechnik, wichtig ist die Botschaft.“Chen Reiss Star-Sopranistin