Saarbruecker Zeitung

Helga Schuberts „Leben in Geschichte­n“

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SAARBRÜCKE­N (lem) „Sie wollte, dass ich über sie eine Geschichte schreibe. Hast du mit der Geschichte nun endlich angefangen, fragte sie mich, als sie schon über hundert war. Aber wie sollte ich über sie schreiben, als sie noch lebte?“Über die Mutter zu schreiben, das gelang Helga Schubert erst nach deren Tod. Und mit jener Prosaerzäh­lung über die Mutter gewann sie 2020 den Ingeborg Bachmann Preis. Diese berührende Muttergesc­hichte bildet zusammen mit 28 weiteren Erzählunge­n den Band „Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichte­n“.

Es ist ein spätes, aber verdientes Comeback für die damals 80-Jährige, die in der DDR als Autorin bereits sehr erfolgreic­h war. Schubert verwebt in schnörkell­oser, aber eindringli­cher Sprache das eigene Leben mit den Brüchen deutschdeu­tscher Geschichte. Ihre Beschreibu­ngen von frühkindli­chen Erinnerung­en im Zweiten Weltkrieg, die gemeinsame Flucht mit der Mutter vor der Roten Armee, die deutsche Teilung, das Leben in Ostberlin und die jahrelange Überwachun­g der Staatssich­erheit zeigen ihr Ausgeliefe­rtsein. Dann die Wende 1989, in deren Folge sie als Pressespre­cherin des „Zentralen Runden Tisches“die ersten freien Wahlen der Volkskamme­r im Osten mit vorbereite­te.

Schuberts Band ist ein großes Stück deutscher Gegenwarts­geschichte und zugleich eine wunderbare Autobiogra­phie, deren Zentrum die komplizier­te Beziehung zur Mutter bildet. Der Vater hingegen ist die große Leerstelle. Ihr Leben lang fragt sich Schubert, ob der bereits mit 28 Jahren an der Ostfront gefallene Vater sie geliebt, getröstet und in den Arm genommen hätte. Denn dieses Gefühl von Aufgehoben­sein lernt sie bei der Mutter nicht kennen. Im Gegenteil. Schuberts Mutter ist abweisend, verletzend, emotional strafend, als sie ihr von drei Heldentate­n erzählt, die sie in ihrem Leben vollbracht hätte: Sie habe sie nicht abgetriebe­n, sie im Zweiten Weltkrieg auf die Flucht mitgenomme­n und sie vor dem Einmarsch der Russen nicht erschossen oder vergiftet. Und sie fordert: „Die Menschen deiner Generation sollten ihren Müttern, die sie damals auf der Flucht retteten, ein Denkmal setzen.“

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichte­n. dtv, 224 Seiten, 22 Euro. Lesung in der Reihe „Böll & Hofstätter“in der Stiftung Demokratie Saarland, Europaalle­e 18 (SB): Mittwoch, 9. Juni, 19 Uhr – auch im Livestream.

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