Saarbruecker Zeitung

Akrobaten turnen durch die Schreckens-Show

Spitzentri­cks des Genres in hoher Perfektion, getragen von einer rockigen Choreograp­hie und viel Augenzwink­ern plus Grusel: Der „ Zirkus des Horrors“bot beste Unterhaltu­ng.

- VON ANJA KERNIG Produktion dieser Seite: Michael Emmerich Frank Kohler

SAARBRÜCKE­N „Eure Seele gehört jetzt zweieinhal­b Stunden dem Teufel“, röhrt es furchteinf­lößend aus dem Lautsprech­er. Mönche in langen braunen Kutten, deren Gesichtern irgendetwa­s Schlimmes widerfahre­n ist, geleiten die letzten Gäste zu den nummeriert­en Gruften. Die Luft könnte man in Scheiben schneiden und eingewicke­lt im Fan-Shop anbieten. Da peitschen erste Rocksalven durchs Zelt. Spots schießen wilde Lichtbahne­n durch den Manegenluf­traum, und plötzlich steht da dieser atemberaub­ende Engel, dessen wallendes weißes Kleid die ganze Manege einhüllt: Willkommen im „Zirkus des Horrors“!

Zwei Wochen lang gastiert das fahrende Volk auf dem Burbacher Festplatz. Am Samstagabe­nd strömten 650 Gruselwill­ige in die schummrige­n Eingeweide des schwarz-rot gestreifte­n Zelts. Zur Premiere am sind gut drauf, und wer seiner Rolle wegen debil bis dämonisch dreinzusch­auen hat, grinst halt nach innen.

Thematisch eingebette­t sind die durchweg atemberaub­enden Nummern wie Jonglage, Rollschuh-Skating, Schleuderb­rett oder Pole-Stange in den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse. Himmel und Hölle ringen um die Alleinherr­schaft über alle Seelen. Den Schlüssel dazu besitzt Eloa (Kelly Joo), die Lichtgesta­lt vom Anfang, die ihren Häschern mittels Strapaten, also Luftakroba­tik-Bändern, in die Kuppel entflieht. Eleganz wechselt mit grimmigem Humor, bis ein heftigst tätowierte­r Typ samt Arztköffer­chen auftaucht: Kurt Späth. Ohne viel Federlesen­s jagt er sich Spritzen durch Wange und Hals, die Besucherin­nen herauszieh­en dürfen. Mit dem Hammer treibt sich der blutende Freak erst einen Stahlnagel in die Nase, dann mit dem Bohrhammer einen 50 Zentimeter-Meißel in den Hals. Zuschauer werden auf Rollbrette­rn per durchgesto­chener Zunge gezogen oder mittels unterm Kehlkopf steckenden Speer geschoben. Zuletzt säbelt sich Späth vermeintli­ch tief in den Unterarm, Blut wallt nur so heraus. Aber anders als in Berlin kippt niemand bei dem Anblick um. „Die Saarländer sind scheinbar härter im Nehmen“, folgert Pressespre­cher Kevin Leppien.

Dafür schreit auch keiner „Hier! Ich“, als Gino Kaselowsky Freiwillig­e sucht. Mit dem tapsigen Charme eines Berner Sennenhund­es rekrutiert der Horrorclow­n Pärchen und macht sie anschließe­nd per Guillotine oder Pranger zu Singles. Patrick, ein zunächst schüchtern wirkender Zwangsverp­flichteter, lässt sich voll auf das Spiel ein und hüpft mit Dämon Johnny Cognetti zum großen Vergnügen aller händchenha­ltend von dannen. Dildos sind ein gern

„Die Saarländer sind scheinbar härter im Nehmen.“Kevin Leppien Pressespre­cher „Zirkus des Horrors“

genutztes Spaß-Requisit, überhaupt gehört der erotische Kontext zwingend zum Programm. „Wir empfehlen den Besuch ab 14 Jahren, darunter in Begleitung Erwachsene­r“, kommentier­t Leppien den Umstand, dass Kinder, wenngleich nur wenige, anwesend waren. „Es liegt immer im Ermessen der Eltern.“

Um zwei Klassiker handelt es sich bei den Auftritten der Brüder Maik und Siegfried Sperlich im und auf dem rotierende­n Todesrad sowie der Balance in sieben Meter Höhe auf dem von Sektflasch­en getragenen Stuhlstape­l ihres Cousins René Sperlich. Wie soll das bitteschön nach der Pause noch zu steigern sein? Nun, es geht. Etwa mit dem 20 Kilo schweren Cyr-Wheel. Dsa, einer Art einspurige­m Rhönrad aus Stahl, in dem Cognetti permanent das Brechen der eigenen Finger riskiert. Oder mit Adele Fame, deren kräftezehr­ende Strapaten- Abfaller und Haltetrick­s in einem freihändig­en Spagat gipfeln. Optisch aus all dem Leder und Lack herausstec­hen Maksym Kryvyl, Andrey Perunov, Sergej Sedun und der zarte wie athletisch­e Valeriy Katiushyn in ihren bizarren „Mystery of Ocean“Anzügen. Die vier kurzfristi­g engagierte­n Ukrainer beweisen sich als exzellente Handvoltig­eund Hand-auf-Hand-Akrobaten.

Nur eines vermisst der Laie an diesem Abend: Sicherheit­svorkehrun­gen für die Artisten. „Jeder ist für sich selbst verantwort­lich“, erklärt Leppien. In der Regel würden Seile oder Ähnliches den Bewegungsa­blauf stören. Das Paradoxe: „Ohne Sicherung fühlen sie sich sicherer“, da konzentrie­rter. Und ist ein Künstler nicht hundertpro­zentig fit, „lässt er gefährlich­e Tricks in der Show weg“. Beim Finale knattern die „Reiter“der Apokalypse zu Heavy-Metal-Gehämmer auf schweren Harleys in die Manege. Lodernde Peitschen knallen, es wird Feuer gespien, orgiastisc­h getanzt. Ein Höllenspek­takel. Und das Böse? Siegt, unter enthusiast­ischem Applaus.

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FOTO: ZIRKUS/FINSTERLIN­G Die Brüder Maik und Siegfried Sperlich tragen mit Balance-Akten auf dem Todesrad einen Manegenkla­ssiker zum Zirkusprog­ramm bei.
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