Siegen – oder lediglich nicht verlieren?
Sollte sich Bundeskanzler Scholz als Zeichen der Entschlossenheit zu einem Sieg der Ukraine bekennen? Das Ringen um Begriffe ist mehr als Wortklauberei, kann aber auch politische Illusionen nähren.
BERLIN (dpa) Tote, tausendfach menschliches Leid in der Ukraine und schwerste Zerstörungen: Gibt es einen Ausweg aus einem monatelangen, womöglich auch jahrelangen Krieg? Die ernüchternde Erkenntnis aus früheren Waffengängen: Gefechtsfeld und Diplomatie sind keine Alternativen, zwischen denen frei entschieden würde. Im Gegenteil, was das Militär am Boden mit Übermacht, Brutalität oder auch Geschick erobert, wird am Verhandlungstisch kaum aufgegeben – und wenn, für einen hohen Preis. Die Debatte, ob die Ukraine siegen soll oder nur nicht verlieren darf, hat weitreichende Bedeutung.
„Selten standen wir mit unseren Freunden und Partnern so geschlossen und geeint da wie heute. Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai. Von einem Sieg der Ukraine als erklärtes Ziel spricht er nicht. Dieser Linie neigt auch der französische Präsident Emmanuel
Macron zu, der Anfang Juni in einem Interview mit der Zeitung Ouest France sagte, wichtig sei, Russland nicht zu demütigen, um dem Land nach Ende der Kämpfe einen diplomatischen Ausweg zu ermöglichen.
Auch wenn es niemand ausspricht, liegt nahe: Ein vollständiges Zurückdrängen russischer Soldaten von ukrainischem Boden wäre eine solche Demütigung. Dazu kommt die Frage nach der eigenen Durchhaltefähigkeit, denn ein langer Krieg schädigt europäische Wirtschaftsnationen mehr als die USA oder China.
Dass nur die Führung um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj über die Frage möglicher Zugeständnisse an Russland entscheiden kann, bekräftigen alle westlichen Politiker. Aber die baltischen Staaten, Briten sowie osteuropäischen Nato-Partner favorisieren einen Sieg der Ukraine als Ziel. Als solcher kann ein abschreckender Vormarsch ukrainischer Truppen gelten, der Moskaus künftige Ambitionen bremsen und Verhandlungsbereitschaft herstellen soll. Absolut gesehen geht es auch darum, eine Rückeroberung des gesamten ukrainischen Staatsgebietes zu unterstützen. „Und das mag manchen tierisch auf den Keks gehen. Wir sollten aber so lange bereit sein, dazustehen, so lange, bis die vollständige territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt ist“, sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes StrackZimmermann (FDP), im Bundestag.
Ob es gelingen könnte, Russland mit einer Mischung aus Wirtschaftssanktionen, militärischem Verschleiß und moralischer Schwächung im Angesicht eigener Untaten zur Aufgabe zu zwingen, wird öffentlich nicht diskutiert. US-Präsident Joe Biden äußerte sich in der vergangenen Woche in einem Gastbeitrag für die New York Times eher vorsichtiger als zuvor. Es ging dabei um die Lieferung moderner Raketen. Biden: „Wir ermutigen oder ermöglichen der Ukraine nicht, jenseits ihrer Grenzen zuzuschlagen. Wir wollen den Krieg nicht verlängern, nur um Russland Schmerzen zuzufügen.“
Strategiewechsel und Meinungsdifferenzen der westlichen Verbündeten beobachtet Edward Luttwak, Experte für militärische Strategie. „Zuerst gab es da die Partei der Niederlage. Sie wollten die Evakuierung von Selenskyj. Dann, innerhalb von ein paar Wochen, tauchte eine Partei des Sieges auf. Sie ist an verschiedenen Orten stark präsent, etwa in London, in Polen und Estland“, sagte er am Wochenende in der Zeitung Welt – und mahnte zu Realismus. Zwar gebe es Siege gegen Atommächte, wie in Vietnam oder in Afghanistan geschehen, jedoch sei das Staatsgebiet der Atommacht weit entfernt gewesen. Luttwak: „Wenn es nun aber einen Krieg in Mexiko gäbe, an dem die Chinesen oder die Russen oder sonst wer beteiligt wären, könnten die Amerikaner nicht besiegt werden. Sie könnten sich auch nicht an ihre Grenze zurückziehen und von dort die Paraden eines siegreichen Feindes mitansehen.“
Kriege seien von Natur aus unberechenbar, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in der vergangenen Woche in Washington – und stimmte auf eine lange Auseinandersetzung ein. Der Konflikt sei zu einem Zermürbungskrieg geworden, in dem beide Seiten einen hohen Preis auf dem Schlachtfeld zahlten. Die meisten Kriege endeten am Verhandlungstisch. Die Aufgabe der Nato-Verbündeten sei es, die Ukraine in dem Konflikt zu unterstützen, um den bestmöglichen Ausgang für das Land zu erreichen.
„Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen.“Olaf Scholz (SPD) Bundeskanzler