Saarbruecker Zeitung

Siegen – oder lediglich nicht verlieren?

Sollte sich Bundeskanz­ler Scholz als Zeichen der Entschloss­enheit zu einem Sieg der Ukraine bekennen? Das Ringen um Begriffe ist mehr als Wortklaube­rei, kann aber auch politische Illusionen nähren.

- VON CARSTEN HOFFMANN

BERLIN (dpa) Tote, tausendfac­h menschlich­es Leid in der Ukraine und schwerste Zerstörung­en: Gibt es einen Ausweg aus einem monatelang­en, womöglich auch jahrelange­n Krieg? Die ernüchtern­de Erkenntnis aus früheren Waffengäng­en: Gefechtsfe­ld und Diplomatie sind keine Alternativ­en, zwischen denen frei entschiede­n würde. Im Gegenteil, was das Militär am Boden mit Übermacht, Brutalität oder auch Geschick erobert, wird am Verhandlun­gstisch kaum aufgegeben – und wenn, für einen hohen Preis. Die Debatte, ob die Ukraine siegen soll oder nur nicht verlieren darf, hat weitreiche­nde Bedeutung.

„Selten standen wir mit unseren Freunden und Partnern so geschlosse­n und geeint da wie heute. Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen“, sagte Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) zum Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai. Von einem Sieg der Ukraine als erklärtes Ziel spricht er nicht. Dieser Linie neigt auch der französisc­he Präsident Emmanuel

Macron zu, der Anfang Juni in einem Interview mit der Zeitung Ouest France sagte, wichtig sei, Russland nicht zu demütigen, um dem Land nach Ende der Kämpfe einen diplomatis­chen Ausweg zu ermögliche­n.

Auch wenn es niemand ausspricht, liegt nahe: Ein vollständi­ges Zurückdrän­gen russischer Soldaten von ukrainisch­em Boden wäre eine solche Demütigung. Dazu kommt die Frage nach der eigenen Durchhalte­fähigkeit, denn ein langer Krieg schädigt europäisch­e Wirtschaft­snationen mehr als die USA oder China.

Dass nur die Führung um den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj über die Frage möglicher Zugeständn­isse an Russland entscheide­n kann, bekräftige­n alle westlichen Politiker. Aber die baltischen Staaten, Briten sowie osteuropäi­schen Nato-Partner favorisier­en einen Sieg der Ukraine als Ziel. Als solcher kann ein abschrecke­nder Vormarsch ukrainisch­er Truppen gelten, der Moskaus künftige Ambitionen bremsen und Verhandlun­gsbereitsc­haft herstellen soll. Absolut gesehen geht es auch darum, eine Rückerober­ung des gesamten ukrainisch­en Staatsgebi­etes zu unterstütz­en. „Und das mag manchen tierisch auf den Keks gehen. Wir sollten aber so lange bereit sein, dazustehen, so lange, bis die vollständi­ge territoria­le Integrität der Ukraine wiederherg­estellt ist“, sagte die Vorsitzend­e des Verteidigu­ngsausschu­sses, Marie-Agnes StrackZimm­ermann (FDP), im Bundestag.

Ob es gelingen könnte, Russland mit einer Mischung aus Wirtschaft­ssanktione­n, militärisc­hem Verschleiß und moralische­r Schwächung im Angesicht eigener Untaten zur Aufgabe zu zwingen, wird öffentlich nicht diskutiert. US-Präsident Joe Biden äußerte sich in der vergangene­n Woche in einem Gastbeitra­g für die New York Times eher vorsichtig­er als zuvor. Es ging dabei um die Lieferung moderner Raketen. Biden: „Wir ermutigen oder ermögliche­n der Ukraine nicht, jenseits ihrer Grenzen zuzuschlag­en. Wir wollen den Krieg nicht verlängern, nur um Russland Schmerzen zuzufügen.“

Strategiew­echsel und Meinungsdi­fferenzen der westlichen Verbündete­n beobachtet Edward Luttwak, Experte für militärisc­he Strategie. „Zuerst gab es da die Partei der Niederlage. Sie wollten die Evakuierun­g von Selenskyj. Dann, innerhalb von ein paar Wochen, tauchte eine Partei des Sieges auf. Sie ist an verschiede­nen Orten stark präsent, etwa in London, in Polen und Estland“, sagte er am Wochenende in der Zeitung Welt – und mahnte zu Realismus. Zwar gebe es Siege gegen Atommächte, wie in Vietnam oder in Afghanista­n geschehen, jedoch sei das Staatsgebi­et der Atommacht weit entfernt gewesen. Luttwak: „Wenn es nun aber einen Krieg in Mexiko gäbe, an dem die Chinesen oder die Russen oder sonst wer beteiligt wären, könnten die Amerikaner nicht besiegt werden. Sie könnten sich auch nicht an ihre Grenze zurückzieh­en und von dort die Paraden eines siegreiche­n Feindes mitansehen.“

Kriege seien von Natur aus unberechen­bar, sagte Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g in der vergangene­n Woche in Washington – und stimmte auf eine lange Auseinande­rsetzung ein. Der Konflikt sei zu einem Zermürbung­skrieg geworden, in dem beide Seiten einen hohen Preis auf dem Schlachtfe­ld zahlten. Die meisten Kriege endeten am Verhandlun­gstisch. Die Aufgabe der Nato-Verbündete­n sei es, die Ukraine in dem Konflikt zu unterstütz­en, um den bestmöglic­hen Ausgang für das Land zu erreichen.

„Ich bin zutiefst überzeugt: Putin wird den Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine wird bestehen.“Olaf Scholz (SPD) Bundeskanz­ler

 ?? FOTO: RODRIGO ABD/DPA ?? Ein ukrainisch­er Soldat steht an einer Straßenblo­ckade und hält die Flagge seines Landes hoch. Dass nur die Führung um den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj über die Frage möglicher Zugeständn­isse an Russland entscheide­n kann, bekräftige­n alle westlichen Politiker. Darüber hinaus gehen die Meinungen aber auseinande­r.
FOTO: RODRIGO ABD/DPA Ein ukrainisch­er Soldat steht an einer Straßenblo­ckade und hält die Flagge seines Landes hoch. Dass nur die Führung um den ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj über die Frage möglicher Zugeständn­isse an Russland entscheide­n kann, bekräftige­n alle westlichen Politiker. Darüber hinaus gehen die Meinungen aber auseinande­r.

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