Saar-Kohlekraftwerke sollen bei Gas-Knappheit einspringen
Der saarländische Energieminister Jürgen Barke fordert, jetzt Notmaßnahmen vorzubereiten, um die Anlagen schnell hochfahren zu können.
SAARBRÜCKEN/BERLIN (ter/low/ dpa) Der saarländische Energieminister Jürgen Barke (SPD) schlägt im Falle eines russischen Gasboykotts die Reaktivierung von Kohlekraftwerken vor. Eine Diskussion über eine Weiternutzung von Kernkraftwerken über den beschlossenen Atom-Ausstieg am 31. Dezember hinaus, wie sie Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zuvor ins Gespräch gebracht hatte, lehnte er ab. Sollte die Gasversorgung einbrechen, sollten Gaskraftwerke besser „durch Kohle substituiert“werden, sagte Barke im Saartalk der Saarbrücker Zeitung und des Saarländischen Rundfunks. Der saarländische Energieminister sieht die Atomkraft „definitiv nicht als Alternative“, ganz abgesehen von der „Kostenseite, der nicht geklärten Entsorgungsfragen“.
Barke betonte, man müsse sich mit allen „Szenarien auseinandersetzen“. Es könne durchaus eine Situation eintreffen, „die uns enorm unter Druck setzt und am Ende auf Arbeitsplatzpotenziale drückt“. Eine Sicherung der Energieversorgung könnte „für eine begrenzte Zeit über Kohle“erfolgen. Entsprechende „Notmaßnahmen“müssten jetzt vorbereitet werden, um sie auch aktivieren zu können. Dafür müssten die Kraftwerksbetreiber berücksichtigt werden, denn sie benötigten „Personal und Investitionen“. Aber „das wird kein Freibrief für die Ewigkeit werden“, schränkte der Minister ein.
Der Vorschlag Barkes, die Kohlekraftwerke länger am Netz zu lassen, entspricht auch der Politik der Bundesregierung. Einem Kabinettsbeschluss zufolge soll eine bis zum 31. März 2024 befristete „Gasersatz
Reserve“aus stillgelegten Kohlekraftwerken eingerichtet werden.
Das wären im Saarland die Stromfabriken in Quierschied und in Bexbach. Zudem würden weitere Kohlekraftwerke in die Reserve überführt, die eigentlich abgeschaltet werden sollten. Dazu gehören die beiden Kohlemeiler in Fenne, die am 31. Oktober endgültig stillgelegt werden sollten, wie ein Sprecher des Essener Energiekonzerns Steag erklärte, dem diese Kraftwerke gehören.
Sinn des Gesetzesvorhabens, das als Beschlussvorlage in den Bundestag geht, ist es, die Gaskraftwerke, die ausschließlich der Stromerzeugung dienen, in den kommenden zwei Wintern möglichst selten ans Netz zu holen. Das damit eingesparte Gas soll dann an anderer Stelle eingesetzt werden, wenn dieser Energieträger knapp wird.
Nach Überzeugung Barkes ist es jetzt aber auch wichtig, die Energiewende in Deutschland hin zu erneuerbaren Stromquellen voranzutreiben. „Das Geld“, das nötig sei, um die Energieversorgung sicherzustellen, solle „in die Nachhaltigkeit, in die erneuerbaren Energien“investiert werden. „Damit sind wir auf dem besseren Weg“, sagte er.
BRÜSSEL Im Schatten der Silvesterraketen zündete die EU-Kommission Minuten vor der Jahreswende einen Streitböller, der Umweltschützer und Atomgegner auf die Barrikaden brachte und viele Interessierte erstmals das Wort „Taxonomie“lernen ließ: die Investitionsempfehlung für Gas und Atom als „nachhaltige“Formen der Energie-Gewinnung. Während das Gesetzesprojekt bei den Mitgliedsländern insgesamt glatt durchgehen könnte, braut sich im Europa-Parlament eine Widerstandsfront zusammen. Nächsten Dienstag dürfte der Umweltausschuss in Brüssel schon mal eine Ablehnung aussprechen.
Die Bundesregierung hat sich längst auf ein Veto festgelegt und dies auch an die französische Ratspräsidentschaft übermittelt. Dabei hatte die EU-Kommission unter
Präsidentin Ursula von der Leyen spekuliert, ihre Taxonomie auch mithilfe Deutschlands durchzukriegen: Zur Jahreswende sah sich Frankreich außerstande, aus der Atomkraft auszusteigen, so wie Deutschland glaubte, in den nächsten Jahren nicht ohne Gas auskommen zu können. Da schien es logisch, dass die beiden wichtigsten Länder mit einem grünen Label für ihre jeweils bevorzugte Energiequelle zu gewinnen seien. Der russische Angriffskrieg hat indes die Gemengelage verändert. Deutschland geht ambitionierter daran, nicht nur aus russischer Abhängigkeit, sondern auch schneller aus Gas insgesamt auszusteigen.
Dennoch reicht der Widerstand von Anti-Atom-Regierungen nicht aus, um die Gas-Atom-Taxonomie auszuhebeln. Weil es sich um einen „delegierten Rechtsakt“handelt, den die Kommission an der normalen EU-Gesetzgebung vorbei, umsetzen kann, ist eine besonders hohe Schwelle zum Stopp durch die Regierungen nötig: 20 von 27 Ländern müssen Nein sagen. Davon sind die Gegner weit entfernt.
Anders im Europa-Parlament. Hier reicht eine einfache Mehrheit der 705 Abgeordneten, also 353 Nein-Stimmen. Die Grünen sind komplett dagegen, bringen es aber nur auf 71 Abgeordnete. Wenn viele der 103 Liberalen ebenfalls mit Nein stimmen, ist allein von diesen beiden Fraktionen schon mal mehr als ein Drittel der Sperre errichtet. So kommt es vor allem auf die beiden großen Gruppierungen an. „Ich erwarte nicht viel Zustimmung aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion“, sagt der Chef der deutschen SPD-EuropaAbgeordneten, Jens Geier. „Die Europäische Kommission schießt sich mit
„Weder Atomenergie noch fossile Brennstoffe können nachhaltig sein.“Jens Geier Chef der deutschen SPD-Europa-Abgeordneten
dieser Taxonomie ein Eigentor“, lautet seine Bewertung. „Weder Atomenergie noch fossile Brennstoffe können nachhaltig sein“, fügt Geier hinzu. Es wird damit gerechnet, dass rund 120 der 145 Sozialdemokraten mit Nein stimmen. Damit wäre das zweite Drittel der Barriere sicher zusammen.
Bei den Vor-Abstimmungen am Dienstag in den Fachgremien wird erwartet, dass sich der Umweltausschuss klar gegen die Taxonomie entscheidet, während es im Wirtschaftsausschuss ein knappes Rennen geben dürfte. Im Juli kommt es dann im Plenum zum Schwur. Auch Christdemokraten wollen sich den Gegnern dann anschließen. Aber wie viele? Markus Pieper, Parlamentarischer Geschäftsführer der UnionsEuropa-Abgeordneten, vergleicht Voraussagen mit dem Blick in eine Glaskugel. Derzeit werde die Debatte stark bestimmt vom Streit um das Klimapaket. Aus seiner Sicht sei ein delegierter Rechtsakt durchaus geeignet, um Investitionen in Brückentechnologien der Energiewende zu erleichtern. Das könnte dann im Plenum - knapp - den Ausschlag geben.
Andererseits weist Grünen-KlimaExperte Michael Bloss darauf hin, dass russische Energielobbyisten massiv für die Aufnahme von Gas und Atom in die Taxonomie geworben hätten. „Das dürfen wir nicht zulassen. Eine Stimme für dieses Greenwashing ist damit die Öffnung des Geldhahns für Putins Kassen“, warnt Bloss. Aus seiner Sicht wäre eine Anlageempfehlung für Gas und Atomkraft verheerend für die Klimaziele: „Europas Energiewende wäre damit um Jahre nach hinten geworfen.“
In den Taxonomie-Begründungen der Kommission wird betont, dass mit der Taxonomie keinerlei öffentliche Investitionen verbunden seien. Es gehe lediglich darum, den Finanzmärkten und Einzelinvestitionen bei der Identifizierung zu helfen, welche neuen Techniken mit Gas- und Atombezug geeignet seien, den Wandel der Energiesysteme in den Mitgliedsländern Richtung Klimaneutralität zu unterstützen. Deshalb gebe es strikte Vorgaben an die Nachhaltigkeit.
Selbst wenn die Taxonomie im Juli das Parlament unbeschadet passiert, bleibt ihr Schicksal ungewiss. Die marktwirtschaftlich orientierte cep-Denkfabrik kommt in einem Gutachten zu dem Schluss, dass die EU-Kommission überhaupt nicht befugt sei, eine derart hochgradig politisch umstrittene Grundsatzentscheidung durch einen delegierten Rechtsakt vorzunehmen. Dieser sei technischen Ausführungen vorbehalten, wenn Rat und Parlament politisch entschieden hätten.
Im Falle einer Klage werde der Europäische Gerichtshof deshalb diese Taxonomie für nichtig erklären. Die Klage haben Österreich und Luxemburg bereits angekündigt.