Trump und seine Lüge von der gestohlenen Wahl
ANALYSE Die Anhörungen des Komitees, das den Sturm auf den US-Kongress im vergangenen Jahr untersucht, geraten zu einer Anklage gegen den Ex-US-Präsidenten.
WASHINGTON Den Zuschauern lief ein Schauer über den Rücken, als auf der Leinwand im „Cannon“-Saal des US-Kongresses ein Galgen mit einer Henker-Schlinge auftauchte. Es war der Höhepunkt einer zehnminütigen Video-Montage zum Teil unveröffentlichter Aufnahmen, mit denen das Komitee die traumatischen Ereignisse vom 6. Januar 2021 aufleben ließ.
Dem Clip mit der Schlinge folgt eine Szene, in der Anführer der Aufständischen einen gerade veröffentlichten Tweet Donald Trumps per Megafon vorgelesen hatten. Darin kritisierte dieser seinen Vizepräsidenten Mike Pence dafür, seine Rolle bei der zeremoniellen Zertifizierung der Wahlleutestimmen drinnen im Kongress nicht zu nutzen, Joe Biden den Sieg abzuerkennen. Die Menge beginnt darauf, „Hängt Mike Pence“zu skandieren.
Die republikanische Co-Vorsitzende des überparteilichen Untersuchungsausschusses, Liz Cheney, erinnerte zum Auftakt der ersten von insgesamt sechs Anhörungen daran, dass Trump von der Gefahr für Pence wusste. Sie zitierte einen Zeugen aus dem Weißen Haus, gegenüber dem der Ex-Präsident gesagt haben soll, vielleicht hätten seine Anhänger die richtige Idee seinem Stellvertreter nach dem Leben zu trachten. „Mike Pence verdient es.“
Die auf Pence wartende Schlinge gerät in der live auf allen großen TVKanälen bis auf FOX übertragenen Eröffnungsnacht zum Symbol der letzten Stufe eines nach Erkenntnissen des Komitees ausgefeilten Plans. „Der Sturm aufs Kapitol am 6. Januar war der Kulminationspunkt eines versuchten Staatsstreichs“, fasst der Vorsitzende Bennie Thompson in seiner Rede zusammen.
Die Republikanerin Cheney sieht es ähnlich. „Präsident Trump hat den Mob einbestellt, er hat ihn zusammengebracht und er hat den Angriff angestachelt.“Methodisch führt die Tochter des ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney die Fernsehzuschauer durch die vorangegangenen Stufen, die in dem Coup-Versuch mündeten.
Das Komitee wählte aus den Tausend Interviews Ausschnitte, die keinen Zweifel daran lassen, dass der abgewählte Präsident um seine Niederlage wusste. Mitte November informierte Trumps Rechtsberater im Wahlkampf, Alex Cannon, das Weiße Haus über das Ergebnis der Ermittlungen über angeblichen
Wählerbetrug. „Es gibt da nichts“, bekräftigte er, was die Gerichte in den Bundesstaaten eines nach dem anderen festgestellt hatten.
In der nächsten Stufe versuchte Trump Republikaner in Bundesstaaten unter Druck zu setzen, in denen Biden knapp gewonnen hatte. Cheney berichtet von einem Geheimtreffen im Weißen Haus, an dem der ehemalige Sicherheitsberater Michael Flynn, Hausanwalt Rudy Giuliani und Rechtsberaterin Sidney Powell teilnahmen. Anschließend forderte Trump seine Anhänger auf, am 6. Januar nach Washington zu kommen. „Seid dabei, es wird wild!“
Die blutige Bilanz des Putschversuchs waren fünf Tote und 140 verletzte Polizisten. Als Erste traf es die Kapitol-Polizistin Caroline Edwards. „Was ich sah, war wie eine Kriegsszene“, erklärte sie vor dem Komitee in ihrer Aussage zum Angriff der Aufständischen. „Ich traute meinen Augen nicht“.
Ob die insgesamt sechs live übertragenen Anhörungen zum 6. Januar das eine Drittel der Amerikaner umstimmen können, die an Trumps „Große Lüge“glauben, gilt unter Analysten eher als unwahrscheinlich. Vielmehr wird die Präsentation als eine Steilvorlage an Justizminister Merrick Garland gesehen, der nun entscheiden muss, ob Donald Trump und seine mutmaßlichen Mitverschwörer wegen des versuchten Coups vor Gericht gestellt werden.