Der heilige Berg der Iren
Keine 800 Meter ist er hoch, aber die haben es in sich. Mehr als 100 000 Wanderer und Pilger besteigen den Croagh Patrick jährlich.
MURRISK Murrisk, im Westen Irlands: Es gibt einen Pub, einen Parkplatz, einen Campingplatz und eine Durchgangstraße. Das kleine 300-Seelen-Dörfchen ist umgeben von grüner Heide und dunkel schimmernden Seen. Dazwischen liegen torfbraune Flüsschen und das blaue Meer. Eine friedliche Landschaft. Hier, in der einst bettelarmen Grafschaft Mayo, riecht man das Salz des Atlantiks. Und hier steht der Croagh Patrick. Wer nach Murrisk kommt, der will Irlands heiligen Berg besteigen, sonst nichts.
Gerry Greensmyth wartet vor dem Besucherzentrum. Der Bergführer kennt den Croagh Patrick wie kein anderer, kennt die Massenwallfahrt, wenn alljährlich am letzten Juli-Wochenende 20.000 bis 25.000 Pilger kommen. Gerry erzählt von der Clew Bay, die unterhalb des Berges liegt. 365 kleine Inselchen gebe es in der Bucht, eines für jeden Tag des Jahres.
Schon von weitem ist seine Gestalt zu erkennen: Karg sieht er von unten aus, ein fast perfekter Kegel; eine Pyramide mit abgerundeten Flanken – ein Berg, wie aus der Schablone für Kinderzeichnungen, geometrisch so perfekt, als sei er von himmlischer Hand geformt worden. Dabei bricht der Croagh Patrick keine Höhenrekorde: Mit seinen 764 Metern schafft er es nicht einmal in die Top 10 der ohnehin nicht besonders hohen irischen Berge. Aber der Croagh Patrick ist steil, mit losem Geröll auf den Hängen. Jedes Jahr stapfen, keuchen Pilger und Wanderer auf diesen graugrünen, oben fast schwarzen Berg. Manche sogar barfuss oder auf Knien, Teenager in durchweichten Turnschuhen, Frauen mit ihren Babys, alte Menschen auf Krücken. Im Besucherzentrum werden ihnen Pilgerstöcke, Medaillons, Rosenkränze, dicke Wollsocken und T-Shirts verkauft.
Vor 1500 Jahren war die Gegend noch ein Zentrum der heidnischen, der keltischen Welt. Bis der Heilige Saint Patrick 441 nach Christus hierher kam und zu missionieren begann. Die Katholiken glauben, dass Saint Patrick 40 Tage lang auf dem Berg gebetet und gefastet habe. Der irische Schutzpatron brachte das Christentum auf die grüne Insel und bekehrte viele Heiden auch hier in der Region Mayo.
Für die Gläubigen gibt es auf dem Weg zum Gipfel einen Steinhaufen, um den reuige Sünder sieben Mal herumgehen müssen, während sie sieben Vaterunser, sieben „Gegrüßet seist Du, Maria“und ein Glaubensbekenntnis sprechen. Ob das alle, der über 100.000 Pilger und Wanderer machen, die jedes Jahr den Croagh Patrick besteigen? Bergführer Gerry ist sich da nicht so sicher und lächelt verschmitzt.
Weiter geht es den Hang hinauf. Wer drei Auf- und Abstiege am selben Tag schafft, dem würden seine Sünden erlassen, heißt es im Volksmund. Modernen Ablasshandel nennt das Gerry. Über moosige Pfade geht der Aufstieg, gespenstische Wolkenfetzen streichen über die höher liegenden Felsenflanken. So könnte eine Mondlandschaft aussehen. Früher standen entlang des Weges noch Kioske, in denen Getränke, Suppen und religiöser Nippes verkauft wurden. Familien aus Murrisk betrieben die Stände, um die Pilger körperlich-seelisch zu stärken – und um die eigenen Haushaltskasse aufzubessern. Sogar Nachtwanderungen gab es. Aber das ist längst vorbei. Aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Um die nichtkatholischen Aktivitäten rings um die Wallfahrt einzudämmen, wurde die Pilgerwanderung auf den Tag verschoben.
Es heißt, wenn man den Berg dreimal hintereinander bestiegen habe, dann würde eine Seele in den Himmel kommen. Man müsse nur an sie denken. Bergführer Gerry hat schon viele Seelen in den Himmel gebracht. Hunderte Male ist er auf
dem Gipfel gewesen. Und er habe so manchen Pilger getroffen, der schlecht ausgerüstet war. Das Wetter kann von einem auf den anderen Moment wechseln. Sonne, Schnee und Nebel – selbst im Sommer ist das möglich. Immer wieder überschätzen sich Wanderer, knapp 800 Meter – das scheint doch keine Herausforderung zu sein. Doch der Berg hat es in sich.
Die letzten 250 Höhenmeter sind die steilsten des ganzen Pfades. Ein holpriger, rutschiger Untergrund voller Geröll. Steinbrocken kommen jedem polternd entgegen. Keine Serpentine, die Erleichterung verschafft. Es geht einfach nur steil und fast schnurgerade bergauf. Schließlich ist der Weg zum Croagh Patrick nicht als fröhliches Freizeitwandern gedacht, sondern ein Pilgerpfad, ein Büßerweg hinauf zur Kapelle des Heiligen Saint Patrick. Unterwegs entschädigt der Ausblick für die Mühsaal des Aufstiegs.
Als der Heilige Saint Patrick den Berg bestiegen haben soll, habe Irland unter einer dreifachen Plage gelitten, erzählt Gerry: einer Masse von Zauberern, Myriaden von Dämonen und einer Unzahl giftiger Reptilien. Der fromme Patrick kämpfte mit Gebeten und Andacht gegen die Peiniger, läutete seine Glocke – die heute im National Museum in Dublin zu sehen ist – so oft, dass sie schwarz wurde, und befreite sich zum Schluss, indem er die bösen Geister mit seinem Stab so wuchtig in den Abgrund bannte, dass dort ein See entsprang. Deshalb gibt es, sagt der Volksmund, bis heute in Irland keine Schlangen.
Oben, auf dem Gipfel angekommen, pfeift einem der Wind um die Ohren. Dort steht eine kleine weißgestrichene Kapelle. 1905 wurde sie geweiht. Seitdem werden dort Gottesdienste für die Pilger abgehalten. Im Innern befindet sich ein Stein, auf dem Saint Patrick so lange im Gebet verharrt haben soll, bis seine Knie einen Abdruck hinterließen. Die besonders Eifrigen gehen 15 Mal um die Kapelle herum, beten 15 Vaterunser und „Gegrüßet seist du, Maria“.