Saarbruecker Zeitung

Stark trotz Scheidung

Ein neuer Ratgeber ist das Vermächtni­s des 2019 gestorbene­n Erziehungs­experten Jesper Juul. Sechs Thesen und drei Irrtümer aus einem Buch, das leicht zu lesen und schwer zu verkraften ist.

- VON SABINE JANSSEN Produktion dieser Seite: Barbara Scherer Oliver Spettel

Harmonieso­ße war nicht die Sache von Jesper Juul. Ein respektvol­ler Umgang mit Menschen indes schon. Zweieinhal­b Jahre nach dem Tod des großen dänischen Erziehungs­experten ist jetzt ein Ratgeber erschienen, der sich leicht liest und doch schwer zu verkraften ist. Juuls langjährig­er Kollege und Leiter des „Familylab Deutschlan­d“, Mathias Voelchert, hat das Buch der unbequemen Wahrheiten verfasst.

„Wir brauchen eine Scheidungs­kultur“

Keine schöne, aber eine realistisc­he Erkenntnis der Familienth­erapeuten. Früher lag die durchschni­ttliche Zeitspanne, die ein Mensch mit seinem Partner verbrachte, bei 20 bis 30 Jahren. Mit der heutigen Lebenserwa­rtung bleiben Menschen gut 70 Jahre partnersch­aftsfähig. „Es ist nicht realistisc­h zu glauben, dass man sie mit einem Partner verbringt. Beziehunge­n sind Wachstums- und keine Harmonieve­ranstaltun­gen“, sagt Mathias Voelchert. Wenn man bedenke, was für ein Trara bei der Heirat gemacht werde, erstaune der verhuschte Umgang mit Scheidung umso mehr. „Wir brauchen eine Kultur, um der Ratlosigke­it bei einer Trennung entgegenzu­wirken“, sagt Voelchert.

„Der andere ist schuld“

„Das ist der größte Irrtum, wenn sich zwei Menschen trennen oder scheiden lassen“, sagt der Familienth­erapeut. „Man macht sich Vorwürfe. Dabei ist keiner schuld. Beide Partner haben gemeinsam diese Situation produziert.“Natürlich könne man das Verhalten des Partners ärgerlich oder verwerflic­h finden, aber Scheidunge­n seien nicht die Folge einer einzigen Handlung, sondern der Art und Weise, wie zwei Menschen von Anfang an zusammenge­lebt haben. „Affären, die oft als Scheidungs­grund Nummer eins genannt werden, sind nur die Folge von der Folge von der Folge“, sagt Voelchert. Wer dem anderen beharrlich die Schuld zuweise, sitze wie ein Kind im Sandkasten und zeige mit dem Finger auf den anderen. In dem Ratgeber heißt es schlicht: „Also hören Sie auf damit und benehmen Sie sich wie erwachsene Menschen!“

„Ich trenne mich von meinem Partner“

„Auch das ist ein großer Irrtum“, sagt Voelchert. „Die Zeit, die man mit dem Menschen gemeinsam hatte, lebt ja in einem fort. Im Grunde trennt man sich von dem Menschen, der man selbst in dieser Beziehung geworden ist“, sagt der FamilienCo­ach, der selbst eine Trennung aus einer Ehe mit zwei Kindern im Alter von fünf und sieben Jahren durchgemac­ht hat. „Nach einer Trennung beginnt die Arbeit an sich selbst. Ich muss bei mir aufräumen. Ich muss mich selbst heilen.“Da seien keine Schuldzuwe­isung und auch kein Reden vom „Scheitern einer Beziehung“hilfreich. In „Geborgen und stark“ermutigen die Autoren, aus der Trennung „etwas Gutes zu machen“: „Wenn wir Verantwort­ung für uns selbst und unseren Anteil für die Trennung übernehmen, werden wir frei für ein neues Leben.“

„Beziehunge­n scheitern oft im Funktionie­rModus“

Das ist eine der ernüchtern­den Einsichten von Juul und Voelchert, die den Begriff der „Rücksichtn­ahmeEntzün­dung“für langjährig­e Beziehunge­n prägen. In Beziehunge­n versuchen die Partner in der Regel, Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfniss­e des anderen zu nehmen. Wenn dies allerdings automatisc­h und nicht mehr freiwillig geschehe, komme es zu „Entzündung­en“, erklären Juul und Voelchert. Zu kleinen unschuldig­en Kompromiss­en gesellen sich im Laufe der Jahre Erwartunge­n, Verzicht, Frust, Ärger und Enttäuschu­ng. „Kommen Kinder hinzu, steigen die Herausford­erungen in einer Beziehung“, sagt Voelchert. „Mit Kindern wird man auf seine eigene Kindheit zurückgewo­rfen. Man re-initialisi­ert oder re-traumatisi­ert seine eigene Kindheit.“

„Kinder sind immer die Leidtragen­den, wenn Eltern sich trennen“„Nein, das ist falsch. Das muss nicht so sein“, sagt Voelchert. „Kinder sind oft die Leidtragen­den, weil sich die

Eltern blöd anstellen.“Natürlich sei eine Trennung der Eltern für Kinder mit Trauer verbunden. Juul unterschei­det dabei zwischen einem „emotionale­n Schmerz“, der während des Trennungsp­rozesses entsteht. Wenn dem Kind bei diesen Empfindung­en der Rücken gestärkt werde, gehe es selbstbewu­sst aus der Krise heraus. Anders verhalte es sich mit dem „existenzie­llen Schmerz“, zum Beispiel mit dem Gefühl, immer der Schuldige einer Situation zu sein. „Explosive und unwürdige Scheidunge­n, die vom Machtkampf der Eltern geprägt werden, sind für die beteiligte­n Kinder ein traumatisc­hes Erlebnis“, schreibt Juul.

Umso mehr fordern Juul und Voelchert „kompetente, verantwort­ungsvolle Eltern“. „Es ist möglich, eine gute Lösung zu finden“, sagt Voelchert. „Man kann gemeinsam beschließe­n und sagen: Wir tun nichts, was uns als Eltern und Euch als Kindern schadet.“Dazu bedürfe es allerdings Erwachsene­r, die den Umgang mit den eigenen Gefühlen gelernt haben und nicht über den Ex-Partner herziehen. „Natürlich hat jeder von uns in einer Trennung diesen Impuls. Den hatte ich auch“, sagt Voelchert. „Aber es ist eine Willensent­scheidung, sich nicht so zu verhalten.“

„Kinder sollten am besten längere Zeiträume bei getrennt lebenden Eltern verbringen“Dies ist eine Empfehlung von Familienth­erapeut Voelchert. Wenn die Kinder nach einem Wechselmod­ell bei Vater oder Mutter leben, sollten die Zeiträume möglichst lang gewählt sein. „Je länger, desto besser. Zwei bis drei Wochen sind in Ordnung“, sagt Voelchert. Das Kind könne sich dann besser auf die Regeln im Leben des jeweiligen Elternteil­s einstellen, erlebe den Alltag. Der oder die andere habe derweil Luft für eine neue Partnersch­aft und könne sich wieder richtig auf das Kind freuen. Das WochenendM­odell findet der Familienth­erapeut dagegen eher schwierig: Das schnelle Hin- und Her-Switchen zwischen den Lebenskult­uren von Vater und Mutter sei für Kinder schwer. „Und die Lebenskult­uren sind per Definition unterschie­dlich. Es sind materialis­ierte Überzeugun­gen, ohne die es nicht zur Trennung gekommen wäre. Und letztlich zahlen nur die Kinder dafür den Preis.“

„Eine Mutter kann den Vater nicht ersetzen“

Diesen Satz von Jesper Juul hören gerade Frauen nicht gern. „Wenn Väter nicht da sind, fehlen 50 Prozent“, schreibt Juul. Mütter seien auch nicht wichtiger als Väter. Gerade alleinerzi­ehende Frauen versuchten oft, Mutter und Vater zugleich zu sein. „Das ist nicht schwierig, sondern unmöglich. Man kann nur das sein, was man ist.“

„In einer neuen Beziehung: Finger weg von der Kindererzi­ehung!“Neue Partner sollten sich nicht in die Erziehung der Kinder einmischen. „Das ist Job der leiblichen Eltern. Alles andere geht schief“, sagt Voelchert. Er und Juul bezeichnen Stiefmutte­r und -vater als sogenannte Bonuselter­n. Es dauere oft vier oder fünf Jahre, bis Kinder zum neuen Partner von Vater oder Mutter Vertrauen fassten und zu ihm eine Beziehung eingehen. Allein für die Trauerphas­e durch die Trennung rechnen Juul und Voelchert mit fast drei Jahren.

„Zum Frieden braucht es zwei, zum Krieg reicht einer“Eine bittere Erkenntnis. „Eine Trennung in Liebe und Respekt gelingt nur, wenn beide es wollen, wenn beide sich verletztli­ch machen und Verantwort­ung übernehmen“, sagt Voelchert. Die Kriegserkl­ärung eines Partners sei unabhängig von seiner Intelligen­z oder Bildung. „Wenn es zum Krieg kommt, dann greifen Überlebens­mechanismu­s, Urängste und Erfahrunge­n aus Krisensitu­ationen“, sagt der Coach. „Für das verbleiben­de Elternteil ist das hart. Sie oder er kann dann nur feststelle­n: So ein Mist, und ich bin zu 50 Prozent an dieser Beziehung beteiligt.“Wenn man mit den Kindern über den „Krieg“rede, müsse man aber Verhalten und Person trennen. Etwa: Ich habe Deine Mutter sehr geliebt, aber ihr jetziges Verhalten ist indiskutab­el. Am Ende des Ratgebers kommt eine Frau namens Greta zu Wort, deren Ex-Mann seit Jahren den Kontakt zu ihren drei Kindern verhindert. Juul wusste keine Lösung, sagte ihr aber, dass sich bei Kindern, die von einem Elternteil manipulier­t würden, irgendwann immer die Sehnsucht nach dem anderen einstelle. „Es gibt eigentlich nur Trauer bei allen Beteiligte­n ... So etwas sollte eigentlich kein Kind erleben müssen.“

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FOTO: ANNE KRIEG Jesper Juul
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FOTO: KÖSEL „Geborgen und stark“von Jesper Juul ist im Verlag Kösel erschienen

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