Stark trotz Scheidung
Ein neuer Ratgeber ist das Vermächtnis des 2019 gestorbenen Erziehungsexperten Jesper Juul. Sechs Thesen und drei Irrtümer aus einem Buch, das leicht zu lesen und schwer zu verkraften ist.
Harmoniesoße war nicht die Sache von Jesper Juul. Ein respektvoller Umgang mit Menschen indes schon. Zweieinhalb Jahre nach dem Tod des großen dänischen Erziehungsexperten ist jetzt ein Ratgeber erschienen, der sich leicht liest und doch schwer zu verkraften ist. Juuls langjähriger Kollege und Leiter des „Familylab Deutschland“, Mathias Voelchert, hat das Buch der unbequemen Wahrheiten verfasst.
„Wir brauchen eine Scheidungskultur“
Keine schöne, aber eine realistische Erkenntnis der Familientherapeuten. Früher lag die durchschnittliche Zeitspanne, die ein Mensch mit seinem Partner verbrachte, bei 20 bis 30 Jahren. Mit der heutigen Lebenserwartung bleiben Menschen gut 70 Jahre partnerschaftsfähig. „Es ist nicht realistisch zu glauben, dass man sie mit einem Partner verbringt. Beziehungen sind Wachstums- und keine Harmonieveranstaltungen“, sagt Mathias Voelchert. Wenn man bedenke, was für ein Trara bei der Heirat gemacht werde, erstaune der verhuschte Umgang mit Scheidung umso mehr. „Wir brauchen eine Kultur, um der Ratlosigkeit bei einer Trennung entgegenzuwirken“, sagt Voelchert.
„Der andere ist schuld“
„Das ist der größte Irrtum, wenn sich zwei Menschen trennen oder scheiden lassen“, sagt der Familientherapeut. „Man macht sich Vorwürfe. Dabei ist keiner schuld. Beide Partner haben gemeinsam diese Situation produziert.“Natürlich könne man das Verhalten des Partners ärgerlich oder verwerflich finden, aber Scheidungen seien nicht die Folge einer einzigen Handlung, sondern der Art und Weise, wie zwei Menschen von Anfang an zusammengelebt haben. „Affären, die oft als Scheidungsgrund Nummer eins genannt werden, sind nur die Folge von der Folge von der Folge“, sagt Voelchert. Wer dem anderen beharrlich die Schuld zuweise, sitze wie ein Kind im Sandkasten und zeige mit dem Finger auf den anderen. In dem Ratgeber heißt es schlicht: „Also hören Sie auf damit und benehmen Sie sich wie erwachsene Menschen!“
„Ich trenne mich von meinem Partner“
„Auch das ist ein großer Irrtum“, sagt Voelchert. „Die Zeit, die man mit dem Menschen gemeinsam hatte, lebt ja in einem fort. Im Grunde trennt man sich von dem Menschen, der man selbst in dieser Beziehung geworden ist“, sagt der FamilienCoach, der selbst eine Trennung aus einer Ehe mit zwei Kindern im Alter von fünf und sieben Jahren durchgemacht hat. „Nach einer Trennung beginnt die Arbeit an sich selbst. Ich muss bei mir aufräumen. Ich muss mich selbst heilen.“Da seien keine Schuldzuweisung und auch kein Reden vom „Scheitern einer Beziehung“hilfreich. In „Geborgen und stark“ermutigen die Autoren, aus der Trennung „etwas Gutes zu machen“: „Wenn wir Verantwortung für uns selbst und unseren Anteil für die Trennung übernehmen, werden wir frei für ein neues Leben.“
„Beziehungen scheitern oft im FunktionierModus“
Das ist eine der ernüchternden Einsichten von Juul und Voelchert, die den Begriff der „RücksichtnahmeEntzündung“für langjährige Beziehungen prägen. In Beziehungen versuchen die Partner in der Regel, Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfnisse des anderen zu nehmen. Wenn dies allerdings automatisch und nicht mehr freiwillig geschehe, komme es zu „Entzündungen“, erklären Juul und Voelchert. Zu kleinen unschuldigen Kompromissen gesellen sich im Laufe der Jahre Erwartungen, Verzicht, Frust, Ärger und Enttäuschung. „Kommen Kinder hinzu, steigen die Herausforderungen in einer Beziehung“, sagt Voelchert. „Mit Kindern wird man auf seine eigene Kindheit zurückgeworfen. Man re-initialisiert oder re-traumatisiert seine eigene Kindheit.“
„Kinder sind immer die Leidtragenden, wenn Eltern sich trennen“„Nein, das ist falsch. Das muss nicht so sein“, sagt Voelchert. „Kinder sind oft die Leidtragenden, weil sich die
Eltern blöd anstellen.“Natürlich sei eine Trennung der Eltern für Kinder mit Trauer verbunden. Juul unterscheidet dabei zwischen einem „emotionalen Schmerz“, der während des Trennungsprozesses entsteht. Wenn dem Kind bei diesen Empfindungen der Rücken gestärkt werde, gehe es selbstbewusst aus der Krise heraus. Anders verhalte es sich mit dem „existenziellen Schmerz“, zum Beispiel mit dem Gefühl, immer der Schuldige einer Situation zu sein. „Explosive und unwürdige Scheidungen, die vom Machtkampf der Eltern geprägt werden, sind für die beteiligten Kinder ein traumatisches Erlebnis“, schreibt Juul.
Umso mehr fordern Juul und Voelchert „kompetente, verantwortungsvolle Eltern“. „Es ist möglich, eine gute Lösung zu finden“, sagt Voelchert. „Man kann gemeinsam beschließen und sagen: Wir tun nichts, was uns als Eltern und Euch als Kindern schadet.“Dazu bedürfe es allerdings Erwachsener, die den Umgang mit den eigenen Gefühlen gelernt haben und nicht über den Ex-Partner herziehen. „Natürlich hat jeder von uns in einer Trennung diesen Impuls. Den hatte ich auch“, sagt Voelchert. „Aber es ist eine Willensentscheidung, sich nicht so zu verhalten.“
„Kinder sollten am besten längere Zeiträume bei getrennt lebenden Eltern verbringen“Dies ist eine Empfehlung von Familientherapeut Voelchert. Wenn die Kinder nach einem Wechselmodell bei Vater oder Mutter leben, sollten die Zeiträume möglichst lang gewählt sein. „Je länger, desto besser. Zwei bis drei Wochen sind in Ordnung“, sagt Voelchert. Das Kind könne sich dann besser auf die Regeln im Leben des jeweiligen Elternteils einstellen, erlebe den Alltag. Der oder die andere habe derweil Luft für eine neue Partnerschaft und könne sich wieder richtig auf das Kind freuen. Das WochenendModell findet der Familientherapeut dagegen eher schwierig: Das schnelle Hin- und Her-Switchen zwischen den Lebenskulturen von Vater und Mutter sei für Kinder schwer. „Und die Lebenskulturen sind per Definition unterschiedlich. Es sind materialisierte Überzeugungen, ohne die es nicht zur Trennung gekommen wäre. Und letztlich zahlen nur die Kinder dafür den Preis.“
„Eine Mutter kann den Vater nicht ersetzen“
Diesen Satz von Jesper Juul hören gerade Frauen nicht gern. „Wenn Väter nicht da sind, fehlen 50 Prozent“, schreibt Juul. Mütter seien auch nicht wichtiger als Väter. Gerade alleinerziehende Frauen versuchten oft, Mutter und Vater zugleich zu sein. „Das ist nicht schwierig, sondern unmöglich. Man kann nur das sein, was man ist.“
„In einer neuen Beziehung: Finger weg von der Kindererziehung!“Neue Partner sollten sich nicht in die Erziehung der Kinder einmischen. „Das ist Job der leiblichen Eltern. Alles andere geht schief“, sagt Voelchert. Er und Juul bezeichnen Stiefmutter und -vater als sogenannte Bonuseltern. Es dauere oft vier oder fünf Jahre, bis Kinder zum neuen Partner von Vater oder Mutter Vertrauen fassten und zu ihm eine Beziehung eingehen. Allein für die Trauerphase durch die Trennung rechnen Juul und Voelchert mit fast drei Jahren.
„Zum Frieden braucht es zwei, zum Krieg reicht einer“Eine bittere Erkenntnis. „Eine Trennung in Liebe und Respekt gelingt nur, wenn beide es wollen, wenn beide sich verletztlich machen und Verantwortung übernehmen“, sagt Voelchert. Die Kriegserklärung eines Partners sei unabhängig von seiner Intelligenz oder Bildung. „Wenn es zum Krieg kommt, dann greifen Überlebensmechanismus, Urängste und Erfahrungen aus Krisensituationen“, sagt der Coach. „Für das verbleibende Elternteil ist das hart. Sie oder er kann dann nur feststellen: So ein Mist, und ich bin zu 50 Prozent an dieser Beziehung beteiligt.“Wenn man mit den Kindern über den „Krieg“rede, müsse man aber Verhalten und Person trennen. Etwa: Ich habe Deine Mutter sehr geliebt, aber ihr jetziges Verhalten ist indiskutabel. Am Ende des Ratgebers kommt eine Frau namens Greta zu Wort, deren Ex-Mann seit Jahren den Kontakt zu ihren drei Kindern verhindert. Juul wusste keine Lösung, sagte ihr aber, dass sich bei Kindern, die von einem Elternteil manipuliert würden, irgendwann immer die Sehnsucht nach dem anderen einstelle. „Es gibt eigentlich nur Trauer bei allen Beteiligten ... So etwas sollte eigentlich kein Kind erleben müssen.“