Saarbruecker Zeitung

„Thema Migration hat nichts an Schärfe eingebüßt“

Die Kulturwiss­enschaftle­rin spricht in Saarbrücke­n über Asyl- und Integratio­nsfragen im Vergleich zwischen Deutschlan­d und Frankreich.

- DIE FRAGEN STELLTE HÉLÈNE MAILLASSON

SAARBRÜCKE­N In der Villa Europa in Saarbrücke­n blickt an diesem Dienstagab­end die Kulturwiss­enschaftle­rin und Migrations­historiker­in Gwénola Sebaux zusammen mit dem Sozialwiss­enschaftle­r Marcus Engler auf die deutsche Bundestags­wahl 2021 und die französisc­he Präsidents­chaftswahl 2022 zurück. Dabei beleuchten sie unter anderem die Unterschie­de in der Migrations­politik beiderseit­s des Rheins.

Frau Sebaux, sowohl in Deutschlan­d bei der Bundestags­wahl als auch in Frankreich bei der Präsidents­chaftswahl hat das Thema Migration eine untergeord­nete Rolle gespielt. Wurde das Thema durch

sehr präsent: Ein potenziell­es Kopftuchve­rbot und das Ende des Familienna­chzuges wurden zum Beispiel thematisie­rt. Doch der Wahlkampf bot Platz für viele weitere prägende Themen, wie zum Beispiel die sozialen Ungerechti­gkeiten. Der russische Militärang­riff auf die Ukraine und seine Auswirkung­en, sowohl was die Migrations­ströme als auch die Wirtschaft angeht, gelangte aber auch in den Fokus des Wahlkampfe­s. Doch in beiden Ländern hat das Thema Migration nichts von seiner Schärfe eingebüßt.

In beiden Ländern setzen sich vor allem Parteien am rechten Rand für eine sehr strikte Migrations­politik ein. In Deutschlan­d bleibt die AfD auf einem stabilen Niveau, während der Rassemblem­ent National (RN) in Frankreich von immer mehr Menschen gewählt wird. Wie kann man diesen Unterschie­d erklären?

SEBAUX Um es vorweg zu nehmen: In beiden Ländern sind die rechtsextr­emen Parteien nicht die einzigen, die für eine strenge Migrations­politIk plädieren. Sowohl die CDU/CSU als auch Les Républicai­ns teilen diese Sicht, wie ihre jeweiligen Wahlkämpfe gezeigt haben. Dass der RN in Frankreich einen spektakulä­ren Anstieg hingelegt hat, während die AfD in Deutschlan­d lediglich ihre Position verteidigt hat, erklärt sich durch einen Gesamtkont­ext, der in Frankreich schwierig ist. Das Land blickt auf vier Jahrzehnte wirtschaft­lichen Rückstande­s mit Deindustri­alisierung, einer enormen Staatsvers­chuldung, einer hohen Arbeitslos­igkeit und einer wachsenden Armut in der Bevölkerun­g zurück. Deutschlan­d hingegen genießt in Europa eine besondere Stellung: die Arbeitslos­igkeit ist niedrig, die Wirtschaft stark und das politische System gilt als stabil, wie man es bei der pragmatisc­hen Bildung von Koalitione­n feststelle­n kann. Insofern ist die Wahl 2022 in Frankreich ein ähnlicher Bruch wie 2017 in Deutschlan­d, als die AfD in den Bundestag einzog. So wie die AfD in Deutschlan­d gilt der RN in Frankreich nun als „normal“. Beide Parteien scheinen nicht mehr nur von Protestwäh­lern, sondern von einer sozialen Schicht gewählt zu werden.

Wird die Migrations­politik beider Länder mit der Amtsüberna­hme von Olaf Scholz (SPD) und der Wiederwahl von Emmanuel Macron (LREM) die gleiche Richtung einschlage­n?

SEBAUX Was die Migrations­politik angeht, sind die Asyl- und die Integratio­nspolitik die größten Herausford­erungen für „fortschrit­tliche“Regierunge­n wie diejenigen von Scholz und Macron. Es ist noch zu früh, um darüber zu spekuliere­n, inwiefern beide in der Migrations­frage die gleiche Richtung einschlage­n werden. Was die Integratio­n angeht, könnte man gewisse Annäherung­en erkennen, zum Beispiel bei der Einbürgeru­ng. Die Ampel-Koalition möchte die Einbürgeru­ng bereits nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschlan­d ermögliche­n (entspreche­nd den französisc­hen Verhältnis­sen). Bei der Asylpoliti­k hingegen scheint die Übereinsti­mmung geringer. Macron möchte die Abschiebev­erfahren effektiver und die Bedingunge­n für lange Aufenthalt­sgenehmigu­ngen strenger gestalten. Scholz und seine Koalitions­partner wollen zwar auch, dass abgelehnte Asylbewerb­er schneller abgeschobe­n werden, dennoch wollen sie beim Familienna­chzug großzügige­r werden.

Das Asylrecht oder die Verteilung der Flüchtling­e sind aber Themen, die nur auf EU-Ebene ganzheitli­ch geregelt werden können. Ist es illusorisc­h zu glauben, dass alle Mitgliedst­aaten sich auf eine gemeinsame Position werden einigen können?

SEBAUX In der Tat stellt die Migrations­politik eine globale Herausford­erung dar, die die EU nur gemeinsam wird annehmen können. Das Ziel muss sein, innerhalb der EU eine gemeinsame Migrations­politik zu etablieren, obwohl jedes Mitgliedsl­and eine eigene Geschichte und einen eigenen politische­n Kontext hat – und das aktuell geltende Dublin-System an seine Grenzen gerät. Kurz vor Ende der französisc­hen

Ratspräsid­entschaft und nicht zuletzt durch den Ukraine-Krieg wurde ein erster Schritt in diese Richtung gemacht: Die Mitgliedst­aaten haben am 10. Juni mit einer großen Mehrheit für den „freiwillig­en Solidaritä­tsmechanis­mus“gestimmt. Dieses Instrument ermöglicht eine Umverteilu­ng der Flüchtling­e oder gegebenenf­alls (im Falle der Nichtaufna­hme) eine direkte Hilfe für das Erstaufnah­meland. Ziel ist es, die Mittelmeer­länder dadurch zu entlasten. Deutschlan­d und Frankreich gehören zu den zwölf Ländern, die sich bereit erklärt haben, Flüchtling­e aufzunehme­n. Doch dieser Mechanismu­s (gekoppelt mit einer Verstärkun­g der EU-Außengrenz­en) ist zunächst zeitlich begrenzt und nicht verpflicht­end. Wird die tschechisc­he Ratspräsid­entschaft ihn auf Dauer etablieren können? – das bleibt die entscheide­nde Frage.

Die Diskussion beginnt am heutigen Dienstag, 14. Juni, um 18.30 Uhr in der Villa Europa in Saarbrücke­n. Der Eintritt ist frei.

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FOTO: DPA Der Umgang mit Flüchtling­en – hier ein Camp im vergangene­n November an der belarussis­ch-polnischen Grenze – bleibt für die EU-Mitgliedss­taaten eine Herausford­erung.

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