Wird die Ukraine ein EU-Beitrittskandidat?
Die EU-Kommission veröffentlicht Ende der Woche ihre Einschätzung zum Status des kriegsgebeutelten Landes. Dann müssen die Mitgliedstaaten entscheiden.
BRÜSSEL Es war bereits der zweite Besuch von Ursula von der Leyen in der Ukraine seit der Invasion Russlands und abermals kam die EUKommissionschefin mit warmen Worten nach Kiew gereist. Das Land gehöre zur europäischen Familie. Es blieb die Botschaft der Deutschen. Und in diesem Duktus dürfte Ende dieser Woche die Einschätzung der EU-Kommission ausfallen. Die Brüsseler Behörde wird empfehlen, der Ukraine den offiziellen Status eines EU-Beitrittskandidaten zu gewähren, hieß es von mehreren Beamten in Brüssel. Man sei sich der Opfer, die die Ukrainer gebracht haben, sehr bewusst und erkenne die Notwendigkeit an, ein deutliches Signal an den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu senden, lautete die Begründung.
Die Ukraine hatte im März – kurz nach dem Einfall der russischen Truppen – einen Antrag auf die Aufnahme in die EU gestellt. Seitdem macht Kiew Druck. „Europa als Ganzes ist Ziel für Russland und die Ukraine ist nur die erste Stufe dieser aggressiven Pläne“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Wochenende. Deshalb könne eine positive Antwort auf den Mitgliedschaftsantrag eine Antwort auf die Frage sein, „ob das europäische Projekt überhaupt eine Zukunft hat“. Neben der Ukraine haben auch Georgien und Moldawien Beitrittsgesuche eingereicht.
Von der Leyen mag zwar während ihrer Reise in Kiew Hoffnungen geschürt haben. Die Entscheidung, ob die Ukraine Kandidatenstatus erhält, liegt jedoch bei den 27 Mitgliedern und muss einstimmig getroffen werden. Wenn die Staats- und Regierungschefs nächste Woche zum
EU-Gipfel in Brüssel zusammenkommen, dürften sie sich auch mit diesem Thema befassen. Hier könnten Realität und Wunschvorstellung aufeinanderprallen. Denn innerhalb der Gemeinschaft herrscht keineswegs Einigkeit. Einige baltische und osteuropäische Länder, aber auch Italien oder Irland, setzen sich dafür ein, dass man der Ukraine rasch den gewünschten Status verleiht. Andere Mitgliedstaaten, etwa die Niederlande und Frankreich, zeigen sich skeptischer. EU-Diplomaten zufolge sind noch mindestens drei Länder dagegen. Die französische Regierung schlug zuletzt vor, eine „europäische politische Gemeinschaft“für die Ukraine und andere beitrittswillige Länder zu schaffen, also die Staaten in einen breiteren und lockeren Nachbarschaftsrahmen aufzunehmen, ohne ihr eine Vollmitgliedschaft zu gewähren.
Selbst wenn derzeit kein Krieg toben würde, wäre die Ukraine laut Beobachtern aufgrund von Korruption und teils mafiösen Strukturen nicht ausreichend vorbereitet, Teil der Union zu werden. Die Ukraine habe „viel für die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit getan, aber es müssen noch Reformen durchgeführt werden, um zum Beispiel die Korruption zu bekämpfen oder die schon gut funktionierende Verwaltung weiter zu modernisieren“, sagte von der Leyen immerhin bei ihrer Reise. Es klang beinahe wie eine Nebensächlichkeit. Dabei steht das kriegsgeplagte Land Experten zufolge vor großen Herausforderungen, bis es die sogenannten Kopenhagener Kriterien erfüllt. Zu ihnen gehören unter anderem Rechtsstaatlichkeit und Wirtschaftsreformen, die für eine Anpassung an den europäischen Binnenmarkt sorgen sollen.
Wie sich Deutschland positionieren wird, ist noch unklar. Eine Sonderprozedur aber, wie sie zunächst in der Diskussion stand, lehnt Berlin ab. Vielmehr war man in den vergangenen Wochen bemüht, die Erwartungen zu dämpfen. Wenn jedoch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi am Donnerstag in die Ukraine reist, wie offenbar geplant, werden es die ukrainischen Politiker kaum versäumen, ihr Anliegen vorzubringen. Zuletzt verwies Scholz darauf, dass ein Schnellverfahren nicht fair gegenüber den sechs Ländern des westlichen Balkans wäre, die ebenfalls – und schon lange – auf einen EU-Beitritt hoffen. Aber könnte der Kreis der Zweifler in der EU wirklich ein Nein gegenüber der Ukraine durchsetzen angesichts des russischen Angriffskriegs? Immerhin, die Entscheidung über den Kandidatenstatus bedeutet nicht, dass das Land in der Folge auch automatisch aufgenommen wird.