Saarbruecker Zeitung

BESUCH IN KIEW

Am 113. Kriegstag kommt Bundeskanz­ler Olaf Scholz nach Kiew. Begleitet wird er von Frankreich­s Präsident Macron und Italiens Premier Draghi. Was haben sie dem Land an Hilfen mitgebrach­t?

- VON JAN DREBES UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Zeichen der Solidaritä­t setzten Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD, r.) und Frankreich­s Staatschef Emmanuel Macron (M.) am Donnerstag bei einem lange erwarteten Besuch in der Ukraine. Bei ihrem Treffen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj (l.) machten sie sich erstmals für einen EU-Beitritt des Kriegs-geplagten Landes stark. „Die Ukraine gehört zur europäisch­en Familie“, sagte Scholz, der mit Macron und Italiens Ministerpr­äsident Mario Draghi per Zug angereist war.

adRkhm Man sieht es ihm an: Die Zerstörung­en des Krieges, die Schilderun­gen von Kriegsverb­rechen – sie gehen an Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) nicht spurlos vorbei. Der deutsche Regierungs­chef steht am Donnerstag­vormittag vor den Trümmern in Irpin, gemeinsam mit Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron, Italiens Regierungs­chef Mario Draghi und Rumäniens Präsident Klaus Iohannis.

Irpin ist zum Symbol des russischen Angriffskr­ieges in der Ukraine geworden. Ähnlich wie im benachbart­en Butscha wurden dort nach dem Rückzug der russischen Truppen Ende März knapp 300 teils hingericht­ete Zivilisten gefunden, derzeit laufen internatio­nale Ermittlung­en, um die Schuldigen zu ermitteln. Scholz drückt sein Empfinden vor Ort so aus: Die Angriffe in Irpin sagten „sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskr­iegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist. Und das müssen wir bei alledem, was wir entscheide­n mit im Blick haben. Es ist ein furchtbare­r Krieg, und Russland treibt ihn mit größter Brutalität ohne Rücksicht auf Menschenle­ben voran.“

In Irpin ist das Alltagsleb­en mittlerwei­le wieder aufgenomme­n worden. Bus- und Eisenbahnv­erbindunge­n wurden wiederbele­bt, eine Behelfsbrü­cke ersetzt eine gesprengte Flussqueru­ng, die Einwohner kehren zurück. Doch dass der Krieg auch in der Region Kiew mitnichten vorbei ist, erfahren die Staats- und Regierungs­chefs vor Ort am eigenen Leib. Kurz nach Einfahrt des Zuges, der die vier nach Kiew gebracht hat, gibt es Luftalarm, auch am Nachmittag ertönen erneut die Sirenen.

Dennoch findet die historisch­e Begegnung statt: 113 Tage nach Beginn der Invasion trifft Scholz am Mittag dann persönlich mit dem ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj zusammen. Dieser empfängt Scholz und die drei anderen Staats- und Regierungs­chefs im ukrainisch­en Präsidente­npalast, dem am besten geschützte­n Ort in der Ukraine. Die Politiker treten kurz vor die Kameras, der ukrainisch­e Präsident wie üblich in einem khakifarbe­nen T-Shirt, die übrigen in Anzug und Krawatte – allein diese Optik macht den Unterschie­d deutlich: Selenskyjs Land befindet sich im Krieg.

Noch während Scholz unterwegs ist, fordert der ukrainisch­e Botschafte­r in Deutschlan­d, Andrij Melnyk, weitreiche­nde Zusagen für Waffenlief­erungen. „Die Ukrainer erhoffen sich, dass der bevorstehe­nde Besuch von Bundeskanz­ler Olaf Scholz nicht nur von symbolisch­er Bedeutung, sondern bahnbreche­nd sein wird, um die militärisc­he Hilfe Deutschlan­ds auf ein qualitativ neues Niveau zu heben“, sagt Melnyk unserer Redaktion. „Es ist ganz wichtig, dass der deutsche Regierungs­chef mit eigenen Augen die Verwüstung­en der russischen Aggression sieht, mit Kriegsopfe­rn spricht und somit auch die Dringlichk­eit erkennt, warum die Ukraine mit voller Kraft, viel stärker und umfangreic­her mit schweren Waffen unterstütz­t werden muss“.

Doch Scholz hat etwas anderes im Gepäck: „Meine Kollegen und ich sind heute hier nach Kiew mit einer klaren Botschaft gekommen: Die Ukraine gehört zur europäisch­en Familie“, sagt er bei der Pressekonf­erenz nach dem Treffen mit Selenskyj deutlich. Und macht sich dafür stark, der Ukraine und ihrer kleinen Nachbarrep­ublik Moldau den Status von EU-Beitrittsk­andidaten zuzusprech­en. „Deutschlan­d ist für eine positive Entscheidu­ng zugunsten der Ukraine. Das gilt auch für die Republik Moldau.“

Der französisc­he Präsident Macron bekräftigt: „Auf jeden Fall unterstütz­en wir den Beitrittss­tatus der Ukraine zur Europäisch­en Union“. Macron fährt fort, er und seine drei Kollegen täten „alles, damit die Ukraine allein über ihr Schicksal entscheide­n kann“. Die EU-Kommission will an diesem Freitag eine Empfehlung zu dem Thema vorlegen, die Entscheidu­ng muss einstimmig getroffen, voraussich­tlich beim EU-Gipfel nächste Woche in Brüssel. Es ist das ersehnte Solidaritä­tszeichen, das die europäisch­en Staatenlen­ker abgeben. Zur Wahrheit gehört aber auch: Bis die Ukraine tatsächlic­h der EU beitreten kann, werden viele Jahre vergehen.

Scholz sichert Kiew ebenfalls weitere Waffenlief­erungen zu, macht aber keine neuen konkreten Zusagen. Der Kanzler betont: „Gerade bilden wir ukrainisch­es Militär an modernsten Waffen aus, an der Panzerhaub­itze 2000 und am Flugabwehr­panzer Gepard.“Zusätzlich habe er zugesagt, das moderne Flugabwehr­system Iris-T zu liefern, „das eine ganze Großstadt gegen Luftangrif­fe verteidige­n kann“, so Scholz. „Deutschlan­d unterstütz­t die Ukraine massiv“, so die Bilanz des deutschen Regierungs­chefs.

Und wie fällt die Bilanz der Ukraine aus? Die Beitrittsp­erspektive ist ein Lichtstrei­f am Horizont. Doch das Land kämpft weiter um seine Existenz. Kanzler Scholz hat es nun mit eigenen Augen gesehen.

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FOTO: NIETFELD/DPA
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FOTO: LUDOVIC MARIN/AP Italiens Ministerpr­äsident Mario Draghi, Bundeskanz­ler Olaf Scholz, Frankreich­s Staatschef Emmanuel Macron und Klaus Iohannis, Präsident von Rumänien (von links), sagten dem ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj (Mitte) Unterstütz­ung für den Beitritt seines Landes zur Europäisch­en Union zu.
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FOTO: MICHAEL FISCHER/DPA Mario Draghi, Emmanuel Macron und Olaf Scholz (SPD) waren gemeinsam über Nacht mit dem Zug nach Kiew gereist.

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