Ökonomen warnen vor Konjunktureinbruch
Die Drosselung der russischen Gaslieferungen gefährdet den Aufschwung in Deutschland, sagen Experten voraus. Zudem rechnen sie mit einer noch höheren Inflation.
BERLIN Die Drosselung der russischen Gaslieferungen nach Deutschland wird nach Einschätzung führender Ökonomen zu einer Eintrübung der deutschen Konjunktur und zu einer noch höheren Inflation führen. Die Reduktion der Gaslieferungen „wird den Gaspreis weiter in die Höhe treiben und dazu führen, dass viele Unternehmen einschließlich der BASF andere Brennstoffe einsetzen, soweit möglich, außerdem wird die Produktion sinken. Die Konjunktur wird also weiter geschwächt“, sagte etwa der Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest.
Der russische Konzern Gazprom hatte am Donnerstag damit begonnen, die Lieferungen durch Deutschlands wichtigste Pipeline Nord Stream 1 zu drosseln. Wie angekündigt, kamen nur noch 40 Prozent der vertraglich vereinbarten Menge an. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) machte dafür politische Motive von Kreml-Chef Wladimir Putin verantwortlich. Die von Gazprom angeführten technischen Probleme seien vorgeschoben. Am Donnerstag war Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gemeinsam mit dem französischen Präsidenten und den Regierungschefs Italiens und Rumäniens nach Kiew gereist. Es liegt nahe, dass Putin die Gaslieferungen jetzt zunehmend als Waffe einsetzt und ein Zeichen setzen wollte.
Die Gas-Reduktion werde die Inflation weiter anheizen, sind sich die Ökonomen einig. „Das russische Regime versucht bewusst die Energiepreise in die Höhe zu treiben, um der europäischen Wirtschaft möglichst großen Schaden zuzufügen“, sagte Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). „Die Sorge ist, dass der deutschen Wirtschaft im globalen Wettbewerb ein großer Wettbewerbsnachteil entsteht, denn Wettbewerber in Asien und in den USA haben meist geringere Energiekosten und damit einen Vorteil“, sagte Fratzscher.
Bundesregierung und EU-Kommission bräuchten dringend eine kluge Strategie, um Putins erfolgreichen Versuch zu stoppen, die europäischen Energiepreise weiter in die Höhe zu treiben. „Die EU und andere westliche Demokratien sollten dringend mit Zöllen oder Preisdeckeln die Energiekosten reduzieren und auch die hohen Gewinne für das russische Regime begrenzen“, forderte der DIW-Chef. Dazu fehle aber bisher der politische Wille.
Auch die Wirtschaftsweise Veronika Grimm sieht erhebliche negative Folgen voraus. „Wenn wir aktuell die Möglichkeiten, Gas einzusparen nicht nutzen, dürfte ein Lieferstopp sehr unangenehme Auswirkungen haben. Die Versorgungslücke wäre dann recht groß und somit auch der Wirtschaftseinbruch“, sagte sie. Grimm verwies auf bereits durchgerechnete Szenarien, die im schlimmsten Fall einen Rückgang der Wirtschaftsleistung von sechs Prozent voraussagen. „Wenn wir die Einsparpotenziale – wie es aktuell beobachtbar ist – so wenig nutzen, dann dürften wir in den düsteren Szenarien landen“, warnte Grimm. Je verletzlicher Deutschland sei, desto wahrscheinlicher werde ein kompletter Lieferstopp durch Putin. „Das würde in einem der pessimistischen
Szenarien bedeuten: Einstellung der Produktion in einigen gasintensiven Industrien, Kurzarbeit, Unternehmenshilfen, weitere Staatsschulden“, sagte das Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung.
Alarmiert zeigten sich auch Wirtschaftsverbände. „Die deutsche Gasversorgung ist im Moment noch stabil. Trotzdem bringen die gedrosselten Gaslieferungen viele deutsche Unternehmen über einen weiteren Preisanstieg zusätzlich in Schwierigkeiten“, sagte Peter Adrian, Chef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). „Quer über alle Branchen und Regionen hinweg beschreiben 78 Prozent der Betriebe die Energie- und Rohstoffpreise als großes Geschäftsrisiko – ein historisch negatives Niveau“, sagte Adrian. In der Industrie seien es sogar 93 Prozent. Weitere Gas-Liefereinschränkungen könne niemand ausschließen. Daher sei es richtig, dass die Bundesregierung alles daransetze, die Energiesicherheit zu erhöhen. „Klar ist: Sollte das Gas komplett ausbleiben, würde das der Konjunktur in Deutschland, aber auch europaweit einen herben Schlag versetzen. Eine Rezession wäre dann unausweichlich“, sagte der DIHK-Chef.
Die Gasversorgung sei durch andere Quellen noch gesichert, betonte auch Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). „Trotzdem ist die Entwicklung besorgniserregend, insbesondere mit Blick auf den Winter. Um so wichtiger ist die Befüllung der Speicher in den nächsten Monaten. Je mehr Gas aber heute schon eingespart wird, desto mehr können wir für die Speicherbefüllung nutzen“, sagte Andreae.