Saarbruecker Zeitung

„Wir alle wissen: Kunst ist nicht streitfrei zu haben“

Der Start der Documenta, die der Bundespräs­ident eröffnet, wird überschatt­et von den Antisemiti­smus-Vorwürfen gegen die Macher.

- VON NICOLE SCHIPPERS

KASSEL (dpa) Temperatur­en über 30 Grad und hitzige politische Debatten: Der Start der Documenta fifteen in Kassel am Wochenende war schweißtre­ibend und spannungsg­eladen. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier eröffnete die neben der Biennale in Venedig weltweit bedeutends­te Ausstellun­g zeitgenöss­ischer Kunst am Samstag. Eigentlich eine Selbstvers­tändlichke­it, doch bei der 15. Ausgabe der Schau seit 1955 hatte das Staatsober­haupt nach eigener Aussage zuvor Zweifel an seiner Teilnahme. „Ich will offen sein: Ich war mir in den vergangene­n Wochen nicht sicher, ob ich heute hier sein würde“, sagte Steinmeier.

Selten habe eine Documenta im Vorfeld eine so heftige und kritische Debatte hervorgeru­fen wie die diesjährig­e, sagte Steinmeier in seiner Eröffnungs­rede mit Blick auf die Antisemiti­smus-Debatte um die diesjährig­e Schau. Dem indonesisc­hen Kuratorenk­ollektiv Ruangrupa war von einem Kasseler Bündnis vorgeworfe­n worden, auch Organisati­onen einzubinde­n, die den kulturelle­n Boykott Israels unterstütz­ten oder antisemiti­sch seien.

„Wir alle wissen: Kunst ist nicht streitfrei zu haben“, betonte Steinmeier. Die Kunstfreih­eit sei ein wichtiger Pfeiler demokratis­cher Gesellscha­ften, habe aber auch ihre Grenzen. „Kunst darf anstößig sein, sie soll Debatten auslösen.“Kritik an israelisch­er Politik sei erlaubt. „Doch wo Kritik an Israel umschlägt in die Infrageste­llung seiner

Existenz, ist die Grenze überschrit­ten.“Er habe im Vorfeld der Schau „manchen gedankenlo­sen, leichtfert­igen Umgang mit dem Staat Israel“beobachtet, so Steinmeier weiter. Die Anerkennun­g Israels sei in Deutschlan­d aber Grundlage und Voraussetz­ung der Debatte. „Es fällt auf, wenn auf dieser bedeutende­n Ausstellun­g zeitgenöss­ischer Kunst wohl keine jüdischen Künstlerin­nen oder Künstler aus Israel vertreten sind.“

Auch Hessens neuer Ministerpr­äsident Boris Rhein (CDU) betonte am Samstag, er nehme den Antisemiti­smus-Vorwurf sehr ernst. „Deutsche Politiker können dazu nicht einfach so sang- und klanglos nichts sagen, wenn im Land der

Täter der Shoah der Vorwurf des Antisemiti­smus erhoben wird“, sagte er. „Wer ein freiheitli­ches und ein lebenswert­es Land will, der kann Antisemiti­smus nicht dulden.“Das gelte auch für „die heimlichen Spielarten der Israel-Kritik als Ersatz-Antisemiti­smus“.

Kritik an den Machern der Documenta fifteen übte auch der Antisemiti­smusbeauft­ragte der Bundesregi­erung. „Es ist den Verantwort­lichen der documenta nicht gelungen, die Antisemiti­smus-Vorwürfe in glaubwürdi­ger Weise auszuräume­n. Das bedaure ich sehr, insbesonde­re nach der hierzu erhitzt geführten öffentlich­en Diskussion“, sagte Felix Klein der Bild am Sonntag. Er teile die kritische Einschätzu­ng des Bundespräs­identen. „Es kann nicht sein, dass Antisemiti­smus Teil des von der öffentlich­en Hand geförderte­n künstleris­chen Diskurses in Deutschlan­d ist.“

In den zurücklieg­enden Wochen sei es der Documenta fifteen leider nicht vollständi­g gelungen, „den von ihr selbst erzeugten Eindruck zu widerlegen, man würde dem israelbezo­genen Antisemiti­smus mithilfe mindestens eines künstleris­chen Beitrags mittelbar ein Podium ermögliche­n“, monierte auch der Antisemiti­smusbeauft­ragte der hessischen Landesregi­erung, Uwe Becker.

Gemeint ist damit der Beitrag der palästinen­sischen Gruppe The Question of Funding, an der sich die Antisemiti­smus-Debatte um die Documenta fifteen entzündete. Dabei kombiniert etwa Mohammed Al Hawajri in seiner Serie „Guernica Gaza“Bilder von Angriffen der israelisch­en Armee auf das Palästinen­sergebiet mit klassische­n Motiven von Millet, Delacroix, Chagall oder van Gogh. Der Serientite­l stellt eine Verbindung her zum Gemälde „Guernica“von Pablo Picasso – es entstand 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der spanischen Stadt durch einen Luftangrif­f der „Legion Condor“Nazi-Deutschlan­ds.

Die künstleris­che Gleichsetz­ung der Verbrechen des faschistis­chen Deutschen Reiches während des spanischen Bürgerkrie­ges mit den Handlungen der israelisch­en Armee lasse kaum Zweifel an der Absicht der Künstlerin­nen und Künstler in der Diffamieru­ng Israels zu, erklärte Becker. „Wer Guernica und Gaza in eine Reihe stellt, befördert den israelbezo­genen Antisemiti­smus im Gewande der Kunstfreih­eit.“Es liege an der documenta, sich für den weiteren Verlauf der Ausstellun­g umso deutlicher gegen jegliche Form des Antisemiti­smus zu positionie­ren und auch Grenzen der Kunstfreih­eit aufzuzeige­n.

Wie zuvor Bundespräs­ident Steinmeier in seiner Ansprache am Samstag forderte der Geschäftsf­ührer des Deutschen Kulturrate­s, Olaf Zimmermann, von der Documenta-Geschäftsf­ührung und der Stadt Kassel sowie dem Land Hessen als Gesellscha­fter der Schau, umgehend eine offene Debatte zu den Vorwürfen zu führen – nach dem Willen Zimmermann­s unter Einbeziehu­ng des Zentralrat­es der Juden.

Vor dem Hintergrun­d der politische­n Debatte um die documenta wurde der Eröffnungs­tag in Kassel von kleineren Kundgebung­en propalästi­nensischer und pro-israelisch­er Gruppen begleitet.

Neben Steinmeier und Rhein waren am Samstag auch Kulturstaa­tsminister­in Claudia Roth (Grüne) und der Botschafte­r der Republik Indonesien, Arif Havas Oegroseno, gekommen. Wegen des Besuchs der Politiker unter hohen Sicherheit­svorkehrun­gen blieben am Vormittag noch einige Ausstellun­gsgebäude für die Öffentlich­keit geschlosse­n, obwohl die Schau bereits lief. Von Samstagmit­tag an strömten dann Tausende Besucher an die 32 Standorte, um sich selbst ein Bild von der so viel diskutiert­en Kunst zu machen. Zu sehen ist sie noch bis zum 25. September.

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FOTO: IMAGO IMAGES Kassel steht bis September wieder im Zeichen der Kunst. Geprägt war der Start der Documenta aber von Streit – und Demonstrat­ionen.

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