Zeitenwende für den Kanzler und seine Partei
Die SPD muss sich noch finden in ihrer neuen Rolle als Kanzlerpartei. Selten waren die Herausforderungen im In- und Ausland größer.
BERLIN Der Kanzler ist viel gereist in den vergangenen Wochen. 13 Länder in vier Wochen. Olaf Scholz war in drei afrikanischen Staaten, in Mittel-, Süd- und Osteuropa – auch in der Ukraine. Sein Parteichef Lars Klingbeil kam zuletzt ebenfalls viel herum. Vier Länder in vier Tagen. Der SPD-Vorsitzende war auf Europatour. Der Antrieb beider Männer? Die Zeitenwende. Ein großes Wort, das Scholz in seiner historischen Rede am 27. Februar in den Mund nahm – drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
Dieser Überfall ändert alles, Zeitenwende eben: internationale Bündnisse, wirtschaftliche Entwicklung, Lieferketten, Energiesicherheit, Klimaschutzpläne, soziale Sicherungssysteme, Zukunftsperspektiven junger Menschen – und auch die Ausrichtung der ältesten Partei Deutschlands.
Letztere ist nun Klingbeils Hauptaufgabe, während Scholz bei seinen Auslandsbesuchen über Kooperationen der Staaten mit Deutschland und der EU spricht, sich ein Bild von Bundeswehreinsätzen macht oder in Kiew über einen EU-Beitrittskandidatenstatus und Waffenlieferungen redet.
Derzeit hängt das Parteigeschäft vor allem an Klingbeil. Die Co-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken, ist wegen eines gebrochenen Fußes seit einigen Wochen eingeschränkt, jetzt kam noch eine Corona-Infektion dazu. Sie hat sich für mehrere Tage abgemeldet.
Bei seiner Europatour hatte Klingbeil insbesondere dies im Blick: sich abstimmen mit den sozialdemokratischen Schwesterparteien in Belgien, Schweden, Portugal und Spanien. Es gilt an einem Strang zu ziehen im Kreis der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), deren
Kongress in diesem Jahr die SPD im Oktober ausrichten wird. Wie stehen die anderen sozialdemokratischen (Regierungs-)parteien zu einem möglichen EU-Beitritt der Ukraine? Wie gehen sie um mit ihrem bisherigen Russlandbild, welches ist ihr neues? Wie wollen sie rasante Veränderungsprozesse wie die Umstellung der Energieversorgung ohne Importe aus Russland meistern, und wie wollen sie Ausgleich in der teils massiv überforderten Bevölkerung für die immer höher steigenden Belastungen schaffen?
Die SPD steht in der Zeitenwende vor der Herausforderung, vor der alle Parteien stehen: Sie muss ihre bisherigen Positionen im Angesicht neuer Realitäten überprüfen und anpassen. Und das alles rasend schnell. Der SPD fällt das traditionell nicht so leicht, sollen doch auch möglichst eng die Mitglieder dabei mitgenommen werden. Für einen langwierigen Beteiligungsprozess fehlt in bestimmten Fragen aber schlicht die Zeit. Besonders schwer hat es die SPD dabei aber auch, weil sie den Kanzler stellt. Weil sie Olaf Scholz Rückendeckung bei den teils irrwitzig rasanten Entwicklungen und notwendigen Reaktionen der Bundesregierung geben soll. Ohne ihr eigenes Profil aufzugeben. Ohne ihr Selbstbewusstsein zu kassieren, das – so war es der Plan von Esken, Klingbeil und Generalsekretär Kevin Kühnert – auch immer wieder zum Ausdruck kommen soll in der laufenden Legislaturperiode. Ein Abnickverein will man im WillyBrandt-Haus nicht sein.
Und so sind erste Schattierungen der neuen Antworten bereits erkennbar. Als Scholz bei seinem Besuch in Kiew verdeutlichte, dass er sich für einen EU-Beitrittskandidatenstatus der Ukraine einsetzen will, reagierte Klingbeil so: Die Ukraine dürfe keine Sonderbehandlung bekommen, keinen Beitritt auf der Überholspur. Denn wenn Länder vom Westbalkan sich seit Jahren anstrengen und Hebel in Bewegung setzen, um die Kriterien für einen Beitritt zu erfüllen, dürften sie nicht ans Ende der Schlange rücken für die Ukraine. Und dass die noch einen langen Weg vor sich hat, ist ohnehin klar. Doch der Beitritt solle zum politischen Projekt werden und dürfe nicht versanden in der Brüsseler Bürokratie.
Klingbeil versucht es nun nach und nach mit einem Schwenk der SPD hin zu einem entspannteren Verhältnis zur Bundeswehr und hohen Rüstungsausgaben. Hin zu einer neuen Weltordnung, in der Deutschland in enger Abstimmung mit seinen europäischen Nachbarn mehr Verantwortung übernimmt und gemeinsam mit Frankreich eine echte Führungsrolle für sich beansprucht – ohne diese nur über das Scheckbuch in der Hand zu definieren. An diesem Dienstag wird Klingbeil eine Grundsatzrede in Berlin halten. Wie viel Selbstbewusstsein in der Kanzlerpartei wirklich steckt, wird sich dabei wohl erstmals nach der Bundestagswahl zeigen.