Parlamentswahlen sorgen für politisches Erdbeben in der EU
BRÜSSEL Das Epizentrum des Schocks lag in der Nacht zum Montag in der Zentrale der Liberalen in Paris. Aber die Schockwellen trafen auch Brüssel. Denn die einschneidenden Parlamentswahlen in Frankreich haben Folgen auch für Europa. Moritz Körner, FDP-Europa-Abgeordneter, spricht deshalb vom französischen Wahlergebnis als einer „schlechten Nachricht für Europa“. Präsident Emmanuel Macron sei bislang als Integrationsmotor für die EU aufgetreten. „Es ist zu befürchten, dass die zukünftig kompliziertere Entscheidungsfindung in Frankreich ihn stärker an Paris binden wird, was unmittelbar auch eine Verlangsamung der Entscheidungsfindung in der EU nach sich ziehen wird.“
Bereits vor acht Wochen hatten die Skeptiker dazu geraten, den Wahlsieg
Macrons nicht als vorschnelle Entwarnung zu interpretieren und erst die Wahlen zur Nationalversammlung abzuwarten. Sie sollten Recht behalten. Macrons Unterstützer verloren ihre Mehrheit im Parlament, die Populisten von Rechts (Marine Le Pen) wie von Links ( Jean-Luc Mélenchon) erstarkten noch mehr als befürchtet. Le Pen kann sich in den nächsten Jahren als ständige Gegenspielerin Macrons in Szene setzen, nachdem sie die Abgeordnetenzahl des Rassemblement National mehr als verzehnfachte. Die Grünen-Europa-Abgeordnete Viola von Cramon ist von den Details des Rassemblement-Erfolges entsetzt. Diese Sitze seien fast alle in Duellen gewonnen worden. In Frankreich bedeute das das Ende der „republikanischen Front“, auf die man sich so lange habe verlassen können. „Das ist ein politischer Schock, ein
Tabubruch, der uns alle alarmieren sollte“, unterstreicht von Cramon.
In einem Land mit der Funktion eines wichtigen Stützpfeilers der Europäischen Union vollzieht sich damit ein permanentes Heranrücken der äußeren Rechten an die Macht. Kamen sie bei der ersten Stichwahl um die Präsidentschaft 2002 noch auf 17,8 Prozent, waren es bei der zweiten bereits 33,9 und zuletzt sogar 41,5 Prozent. Dass Macron noch einmal gewählt wurde, hat er nach den Stichwahlen für die Parlamentssitze offensichtlich nicht einer Zufriedenheit mit ihm, sondern einer (letzten?) Abwehr der Nationalisten zu verdanken. Dieses Mal verband den Linkspopulisten Mélenchon mit der Rechtsextremen Le Pen das gemeinsame Ziel, Macrons Einfluss zu brechen.
Vor allem verband sie ihre ausgesprochene EU-Skepsis. Beide machten sich im Wahlkampf dafür stark, die EU-Regeln künftig nicht mehr zu beachten, wenn sie französischen Interessen im Weg stünden. Das war der Kurs Polens, bevor das rechtspopulistische PiS-Regime durch Vorenthalten von EU-Geldern gezwungen wurde, die EU-Gesetze wieder als vorrangig vor den nationalen anzuerkennen.
Nun stärken ausgerechnet die Wähler in Frankreich, dem Land des Straßburger Sitzes des EU-Parlamentes, die anti-europäischen Reflexe. Verheerende Nachwirkungen dürften daneben auch das sozialistische und grüne Lager treffen. Ihre Parteien waren mit Mélenchon ein Bündnis eingegangen, um ihre Chancen auf Mandate zu erhöhen und hatten dafür ihre europafreundliche Überzeugung verleugnen müssen. Was das mit ihrer europapolitischen Verlässlichkeit in künftigen Wahlkämpfen macht, wird sich noch zeigen. Es verschlechtert jedenfalls die Basis für die EU-Unterstützer in einem der wichtigsten Staaten der EU.
Für Daniel Caspary, dem Chef der CDU/CSU-Europa-Abgeordneten, hat sich am Sonntag gezeigt, dass die Mehrheit der Franzosen mit Macron unzufrieden ist. „Er wird sich also einerseits mehr um die französische Innenpolitik und die notwendigen Reformen kümmern müssen. Andererseits wird ihn dies bei seinen europäischen Ambitionen eher ausbremsen“, fürchtet der CDU-Politiker. Für ihn folgt daraus jedoch auch eine Empfehlung an die EU-Kommissionspräsidentin. „Ursula von der Leyen sollte die Schwäche vieler Regierungschefs nun nutzen, ihre führende Rolle für Europa deutlicher zu machen und insgesamt den Führungsanspruch der Europäischen Kommission stärken“, erklärte Caspary.
Für Jens Geier, den Chef der SPDEuropa-Abgeordneten, ist eine massive Klimaveränderung im Parlament in Paris absehbar. „In der französischen Nationalversammlung wird antieuropäisches Dröhnen zunehmen“, sagt der deutsche Sozialdemokrat voraus. Das erwarte er nicht von den Sozialisten und auch nicht von den Grünen, „aber von Mélenchon– und vor allem natürlich von der massiv gestärkten extremen Rechten“, so Geier. Zwar lägen die Kompetenzen der Europapolitik in Frankreich beim Präsidenten. „Aber seine Manövrierfähigkeit ist eingeschränkt worden – das ist schlecht“, erläutert Geier. Auch die Grünen-Europa-Abgeordnete Cramon ist desillusioniert: „Eine ehrgeizige EU-Agenda wird man unter diesen Umständen wohl nicht mehr erwarten können.“