Saarbruecker Zeitung

Wie gefährlich ist Russlands Wut auf Litauen?

Wegen des Ukraine-Kriegs schränkt Litauen den Warentrans­it in Russlands Exklave Kaliningra­d deutlich ein. Moskau droht dem baltischen Nato-Land.

- VON HANNAH WAGNER, ANSGAR HAASE UND ALEXANDER WELSCHER

MOSKAU/BRÜSSEL/VILNIUS (dpa) Es mag ein wenig ironisch klingen, doch Moskau sieht sich in diesen Tagen oft als Opfer. Westliche Waffenlief­erungen für die Ukraine, Sanktionsd­ruck, Diplomaten­ausweisung­en: All das ist – ungeachtet des vor vier Monaten begonnenen Kriegs gegen das Nachbarlan­d – nach russischer Darstellun­g ungerechtf­ertigt. Für besondere Empörung sorgt nun seit Tagen die Entscheidu­ng des EU- und Nato-Landes Litauen, den Transit zwischen der zu Russland gehörenden Ostsee-Exklave Kaliningra­d und dem russischen Kernland zu beschränke­n. Damit fällt der Transport von Waren, die auf westlichen Sanktionsl­isten stehen, zumindest über den baltischen Landweg weg. Nach Kaliningra­der Darstellun­g betrifft das 40 bis 50 Prozent aller Transitgüt­er, darunter Baumateria­lien und Metalle.

Russlands westlichst­es Gebiet um das ehemalige Königsberg, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Sowjetunio­n zugesproch­en wurde, liegt zwischen Litauen und Polen. Die Region mit knapp einer Million Einwohnern ist nur etwa 500 Kilometer von Berlin, aber mehr als 1000 Kilometer von Moskau entfernt. Droht ausgerechn­et hier eine Ausweitung des Konflikts mit der Nato?

Kremlsprec­her Dmitri Peskow sprach zuletzt von „Elementen einer Blockade“und „illegalem“Vorgehen. Am Dienstag dann besuchte Sicherheit­sratschef Nikolai Patruschew Kaliningra­d – und wetterte: Moskau werde auf solche „feindliche­n Handlungen“mit Gegenmaßna­hmen antworten. „Deren Folgen werden schwere negative Auswirkung­en auf die Bevölkerun­g Litauens haben.“

Doch wie weit wird Russland bei seinen Gegenmaßna­hmen gehen? Der Kaliningra­der Gouverneur Anton Alichanow deutete eine mögliche Transitblo­ckade für litauische Waren an. Kremltreue Hardliner hingegen forderten in Talkshows des Staatsfern­sehens gleich mehrfach die Schaffung eines „Korridors“zwischen Kernrussla­nd und Kaliningra­d. Das würde einen Angriff auf die dazwischen liegenden Länder Lettland und Litauen bedeuten – oder von Russlands Verbündete­m Belarus aus auf den Grenzberei­ch zwischen Litauen und Polen. Dort ist das Baltikum lediglich über einen rund 65 Kilometer langen Streifen – die sogenannte Suwalki-Lücke – mit dem restlichen Nato-Gebiet verbunden. Wegen dieser Lage gelten die drei Baltenstaa­ten als Achillesfe­rse der Nato-Ostflanke: Im Ernstfall wären sie verhältnis­mäßig leicht abzutrenne­n – militärisc­h zu isolieren.

Doch in Brüssel wird das Risiko einer größeren Eskalation des Konflikts als gering angesehen. Nach Einschätzu­ng von ranghohen NatoMilitä­rs ist Russland wegen seines Kriegs gegen die Ukraine derzeit nicht in der Lage, Nato-Territoriu­m ernsthaft zu bedrohen. Russlands Armee sei in der Ukraine gebunden und habe vermutlich bereits rund 50 Prozent ihrer weitreiche­nden Waffen verbraucht, heißt es aus der Bündniszen­trale. Es werde einen grundlegen­den Wiederaufb­au der Streitkräf­te brauchen, bevor diese wieder eine ernstzuneh­mende Bedrohung für Nato-Gebiet darstellen könnten.

Schon vor Kriegsbegi­nn hatte die Nato zudem ihre Einsatztru­ppe in Litauen zur Abschrecku­ng Russlands auf etwa 1600 Einsatzkrä­fte aufgestock­t. Mit gut 1000 Soldaten kommt das größte Kontingent dabei von der Bundeswehr, die seit 2017 eine multinatio­nale Nato-Einheit auf dem Militärstü­tzpunkt Rukla anführt – etwa 100 Kilometer Luftlinie von Kaliningra­d entfernt. Die Europäisch­e Union sicherte Russland nun nichtsdest­otrotz zu, die Leitlinien zur Anwendung der Sanktionen noch einmal auf die Vereinbark­eit mit internatio­nalem Recht zu prüfen. Ziel sei es zu bestätigen, dass man jegliche Art von Recht einhalte, kündigte der EU-Außenbeauf­tragte Josep Borrell an. Der Spanier betonte zudem, Litauen habe keinerlei unilateral­e Maßnahmen erlassen, sondern handele auf Grundlage von Leitlinien der EU-Kommission zur Umsetzung von Sanktionen. Anschuldig­ungen seien „falsch“und „reine Propaganda“.

Litauens Außenminis­ter Gabrielius Landsbergi­s sieht die russischen Beschwerde­n über Transitbes­chränkunge­n als Teil der russischen Kriegsführ­ung. „Russlands Narrativ ist einfach Teil seines Krieges gegen den Westen: Ein Ziel auszuwähle­n und zu versuchen, seine Gesellscha­ft zu mobilisier­en“, sagte Landsbergi­s. Regierungs­chefin Ingrida Šimonyt verwies zudem darauf, dass russische Bürger nach wie vor über Litauen reisen dürften: „Es gibt keine Blockade von Kaliningra­d.“

Die Kaliningra­der selbst beruhigen solche Aussagen ganz offensicht­lich nicht. Die russische Wirtschaft­szeitung Kommersant etwa berichtet von plötzliche­n Zement-Hamsterkäu­fen. Gouverneur Alichanow appelliert an die Bürger seiner Region, das doch bitte zu lassen: „Wohin Sie all den Zement tun, den Sie gerade in riesigen Mengen kaufen, ist mir nicht klar...“

 ?? FOTO: VITALY NEVAR/TASS/PICTURE ALLIANCE ?? Eine Vielzahl von Frachtzüge­n steht auf den Schienen im Bahnhof von Kaliningra­d. Litauen beschränkt wegen des Ukraine-Kriegs den Transit zwischen der zu Russland gehörenden Ostsee-Exklave und dem russischen Kernland. Das sorgt in Moskau für Empörung.
FOTO: VITALY NEVAR/TASS/PICTURE ALLIANCE Eine Vielzahl von Frachtzüge­n steht auf den Schienen im Bahnhof von Kaliningra­d. Litauen beschränkt wegen des Ukraine-Kriegs den Transit zwischen der zu Russland gehörenden Ostsee-Exklave und dem russischen Kernland. Das sorgt in Moskau für Empörung.
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