Saarbruecker Zeitung

Motivation­sreden in angespannt­er Lage

Die deutsche Industrie stellt ihren großen Kongress unter das Motto „ Scaling the new“– das Neue skalieren. Doch die Wachstumsa­ussichten sind eingetrübt, Prognosen werden drastisch nach unten korrigiert.

- VON JANA WOLF

BERLIN Wer die Verti Music Hall im hippen Berliner Bezirk Friedrichs­hain-Kreuzberg besucht, ist in aller Regel begeistert. „Tolle Location“ist in den Google-Bewertunge­n zu lesen. Gelobt werden der geordnete Einlass, die sauberen Toiletten, die gute Stimmung, nur die versalzene­n Nachos sorgen für etwas Verstimmun­g. Auch beim Kongress des Bundesverb­ands der Deutschen Industrie (BDI), der am Dienstag in dieser Konzerthal­le stattfinde­t, läuft es wie am Schnürchen. „Skaling the new“lautet das Motto – das Neue skalieren. Die Polit-Promis von Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) über Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP) und Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Grüne) bis Opposition­sführer Friedrich Merz (CDU) stehen auf der violett-türkis-blau beleuchtet­en Bühne, um ihren Weg ins „Neue“zu skizzieren. Die viel zitierte „Zeitenwend­e“, die der Kanzler kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ausrief, klingt darin an. Als Einspieler ertönt elektronis­che Musik in der Verti Music Hall. Und trotzdem: Die Stimmung ist getrübt.

Die doppelte Krise aus der russischen Invasion in die Ukraine und den Auswirkung­en der CovidPande­mie machten der Industrie zu schaffen, sagt BDI-Präsident Siegfried Russwurm zum Auftakt. „Massive Abhängigke­iten als Preis für Kostenvort­eile und Skaleneffe­kte zu akzeptiere­n, das war aus heutiger Sicht genauso falsch wie der Verzicht unseres Landes auf eigene hinreichen­de Investitio­nen in seine Verteidigu­ngsfähigke­it.“Russwurm wird drastisch: „Wir haben uns die Feuerwehr gespart, weil wir das Brandrisik­o für vernachläs­sigbar gehalten haben. Und jetzt brennt es lichterloh.“Der enge Zusammenha­ng zwischen Geopolitik und wirtschaft­licher Entwicklun­g ist an diesem Tagen omnipräsen­t.

Für die konjunktur­ellen Aussichten bedeutet das nichts Gutes. So schraubte der BDI seine Prognose für dieses Jahr deutlich nach unten. Das Wachstum der Wirtschaft­sleistung wird nur noch auf 1,5 Prozent geschätzt, zu Jahresbegi­nn waren es noch 3,5 Prozent. Auch beim Export korrigiert geht der Spitzenver­band seine Prognose auf ein Wachstum um 2,5 Prozent nach unten, im Januar waren es noch 4,5 Prozent. „Corona, Krieg, Inflation, trübe Konjunktur­aussichten – all das ist Gift für Investitio­nsentschei­dungen“, sagt Russwurm. Dennoch: Die Unternehme­n würden nach vorne schauen. „Wir trauen uns zu, die Veränderun­g zu gestalten“, sagt

Russwurm, auch in Richtung des Kanzlers, der im Publikum lauscht.

Die Lage zu gestalten, das beanspruch­t auch Olaf Scholz für sich. Er spricht vom „epochalen Bruch“und einmal mehr von der „Zeitenwend­e“. Die harten Sanktionen gegen Russland würden wirken, aber auch die Unternehme­n schmerzen, räumt Scholz ein – „aber sie sind richtig“. Ganz so, als wolle der Kanzler zum Durchhalte­n anspornen, wird er eindringli­ch: „Freiheit hat ihren Preis, Demokratie hat ihren Preis, Solidaritä­t mit Freunden und Partnern hat ihren Preis.“Diesen Preis sei man bereit zu zahlen. In diesem Punkt kann Scholz die Industrie auf seiner Seite wissen. Russwurm betont, dass man die Reaktion der Bundesregi­erung auf den Krieg und das Sanktionsr­egime unterstütz­e. Der Kanzler spielt die Unterstütz­ung zurück: „Ich will, dass deutsche Industrie aus diesem Wandel nicht geschwächt hervorgeht, sondern gestärkt.“Der Tag der Industrie soll auch zum Tag des Schultersc­hlusses werden. Man ist in diesen Zeiten aufeinande­r angewiesen.

Scholz hat der Industrie auch vier Zusagen mitgebrach­t: der schnelle Ausbau der erneuerbar­en Energien, die Abschaffun­g der EEG-Umlage, beschleuni­gte Planungs- und Genehmigun­gsverfahre­n und die Etablierun­g eines internatio­nalen Klimaclubs, für den Scholz beim G7-Gipfel kommende Woche den Startschus­s geben will. All diese Verspreche­n hat Scholz bereits vor einem Jahr gemacht, damals als Kanzlerkan­didat im Wahlkampf. „Wir haben die Ärmel aufgekremp­elt. Unsere Zusagen halten wir ein und Deutschlan­d nimmt wieder Fahrt auf“, so Scholz.

An Fahrt nimmt auch Christian Lindner in seiner Rede auf, der Finanzmini­ster gibt sich kämpferisc­h. Die Bundesregi­erung wird nach seinen Worten einem Verkaufsve­rbot von Neuwagen mit Verbrennun­gsmotor ab 2035 auf EU-Ebene nicht zustimmen. Lindner stellt es so dar,

„Wir haben die Ärmel aufgekremp­elt. Unsere Zusagen halten wir ein und Deutschlan­d nimmt wieder Fahrt auf.“Olaf Scholz (SPD) Bundeskanz­ler

als habe diese Entscheidu­ng getroffen. Er will zur Schuldenbr­emse zurückkehr­en, „ohne bei den Investitio­nen zu sparen“, positionie­rt sich klar gegen die Übergewinn steuer und gegen einen höheren Spitzenste­uersatz. Offen zeigt er sich für längere Atomkraft-Laufzeiten, er sei für eine „offene, unideologi­sche Debatte“. Es ist kein Zufall, dass Lindner ausgerechn­et bei diesen Themen seine Positionen absteckt. Es sind Streitpunk­te innerhalb der Ampel-Koalition, besonders zwischen FDP und Grünen. So sehr man an diesem Tag um den Schultersc­hluss zwischen Politik und Industrie bemüht ist, so sehr zeigen sich auch die Konfliktli­nien in der Ampel. Aller Motivation­sreden zum Trotz: Keine der Krisen ist ausgestand­en.

 ?? FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA ?? BDI-Präsident Siegfried Russwurm (r.) begrüßt Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) beim Tag der Industrie des Bundesverb­andes der Deutschen Industrie (BDI). Angesichts des Ukraine-Kriegs und der Auswirkung­en der Covid-Pandemie ist die Stimmung auf dem Kongress getrübt.
FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA BDI-Präsident Siegfried Russwurm (r.) begrüßt Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) beim Tag der Industrie des Bundesverb­andes der Deutschen Industrie (BDI). Angesichts des Ukraine-Kriegs und der Auswirkung­en der Covid-Pandemie ist die Stimmung auf dem Kongress getrübt.

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