50 000 britische Eisenbahner legen ihre Arbeit nieder
An Großbritanniens Bahnhöfen geht seit Dienstag nichts mehr. Der schon jetzt größte Streik im Land seit mehr als 30 Jahren könnte erst der Anfang sein.
LONDON Es galt für Bahnhöfe in Plymouth im Südwesten Großbritanniens bis Glasgow im Norden: Wo sich normalerweise Hunderte Menschen drängen, herrschte gestern gähnende Leere. Denn im Vereinigten Königreich finden seit Dienstag die größten Streiks seit über 30 Jahren statt. Mehr als 50 000 Mitarbeiter des Infrastruktur-Unternehmens National Rail sowie von 15 Bahnunternehmen legten die Arbeit nieder. Die Streiks sollen am Donnerstag sowie am Samstag fortgesetzt werden. Und das könnte erst der Anfang sein. Lehrer und Pflegepersonal wollen sich womöglich dem Ausstand anschließen.
Die britische Boulevardzeitung The Daily Mail verglich die Situation mit einem „landesweiten Lockdown“. Tatsächlich wurde das Reisen sowohl in städtischen als auch ländlichen Regionen beträchtlich erschwert. Vor Busstationen bildeten sich riesige Menschentrauben und auf den Straßen entstanden lange Staus. Schüler hatten es schwer, zu ihren Prüfungen zu kommen. Viele Briten konnten gar nicht oder nur verspätet zu ihrer Arbeitsstelle gelangen.
Der Chef der Gewerkschaft National Union of Rail, Maritime and Transport Workers, Mike Lynch sieht keine andere Möglichkeit, um sich Gehör zu verschaffen. Stellen würden abgebaut, Sicherheitsstandards reduziert und Fahrkartenverkaufsstellen geschlossen, zählte er die Gründe auf. Außerdem solle die Arbeitszeit verlängert werden. Auf einen Kompromiss konnte man sich bislang nicht einigen.
Premierminister Boris Johnson verurteilte die Streiks am Dienstag und bezeichnete sie als „falsch und unnötig“. Er betonte, dass die britische Regierung die Branche während der Pandemie mit mehreren Milliarden Pfund unterstützt habe, und sagte, dass geplante Reformen die Komplexität des derzeitigen Eisenbahnsystems in Großbritannien verringern sollen.
Zugespitzt hat sich die Lage in den letzten Monaten für die Mitarbeiter der Bahn vor allem in Folge der Pandemie, wie Matthew Gill, Experte bei der Londoner Denkfabrik „The Institute for Government“gegenüber dieser Zeitung erklärte: „Die Inflation in Großbritannien hat um rund zehn Prozent zugenommen.“Dem stehe ein deutlich niedrigeres Lohnwachstum gegenüber. Das Problem sei, dass die Unternehmen in der Folge der Pandemie und den damit einhergehenden niedrigeren Fahrgastzahlen in einer finanziell sehr schlechten Situation seien und immer noch von Hilfsleistungen durch den Staat abhängig sind. Und dieser zeigt sich bislang nicht verhandlungsbereit, die Subventionen zu erhöhen.
Die Frage, ob die Streiks gerechtfertigt sind, ist Experten zufolge nicht einfach zu beantworten. Denn tatsächlich stehen die Mitarbeiter des Infrastruktur-Unternehmens National Rail vor demselben Problem wie aktuell fast alle Arbeiter und Angestellten in Großbritannien; mit dem Unterschied, dass sie eine starke Gewerkschaft im Rücken hätten. Ein Generalstreik aller Arbeiter im Land sei deshalb unwahrscheinlich.
Lehrer-Gewerkschaften und solche, die Pflegepersonal des Gesundheitssystems NHS vertreten, denken jedoch durchaus darüber nach, ebenfalls in den Streik zu treten. Insbesondere für Letztere sei es jedoch deutlich schwieriger, da die Mitarbeiter dazu verpflichtet sind, eine Grundversorgung zu gewährleisten – ansonsten gilt der Streik als illegal. Aktuell werden ähnliche Bestimmungen auch für Mitarbeiter von Bahnbetrieben diskutiert.