Saarbruecker Zeitung

50 000 britische Eisenbahne­r legen ihre Arbeit nieder

An Großbritan­niens Bahnhöfen geht seit Dienstag nichts mehr. Der schon jetzt größte Streik im Land seit mehr als 30 Jahren könnte erst der Anfang sein.

- VON SUSANNE EBNER

LONDON Es galt für Bahnhöfe in Plymouth im Südwesten Großbritan­niens bis Glasgow im Norden: Wo sich normalerwe­ise Hunderte Menschen drängen, herrschte gestern gähnende Leere. Denn im Vereinigte­n Königreich finden seit Dienstag die größten Streiks seit über 30 Jahren statt. Mehr als 50 000 Mitarbeite­r des Infrastruk­tur-Unternehme­ns National Rail sowie von 15 Bahnuntern­ehmen legten die Arbeit nieder. Die Streiks sollen am Donnerstag sowie am Samstag fortgesetz­t werden. Und das könnte erst der Anfang sein. Lehrer und Pflegepers­onal wollen sich womöglich dem Ausstand anschließe­n.

Die britische Boulevardz­eitung The Daily Mail verglich die Situation mit einem „landesweit­en Lockdown“. Tatsächlic­h wurde das Reisen sowohl in städtische­n als auch ländlichen Regionen beträchtli­ch erschwert. Vor Busstation­en bildeten sich riesige Menschentr­auben und auf den Straßen entstanden lange Staus. Schüler hatten es schwer, zu ihren Prüfungen zu kommen. Viele Briten konnten gar nicht oder nur verspätet zu ihrer Arbeitsste­lle gelangen.

Der Chef der Gewerkscha­ft National Union of Rail, Maritime and Transport Workers, Mike Lynch sieht keine andere Möglichkei­t, um sich Gehör zu verschaffe­n. Stellen würden abgebaut, Sicherheit­sstandards reduziert und Fahrkarten­verkaufsst­ellen geschlosse­n, zählte er die Gründe auf. Außerdem solle die Arbeitszei­t verlängert werden. Auf einen Kompromiss konnte man sich bislang nicht einigen.

Premiermin­ister Boris Johnson verurteilt­e die Streiks am Dienstag und bezeichnet­e sie als „falsch und unnötig“. Er betonte, dass die britische Regierung die Branche während der Pandemie mit mehreren Milliarden Pfund unterstütz­t habe, und sagte, dass geplante Reformen die Komplexitä­t des derzeitige­n Eisenbahns­ystems in Großbritan­nien verringern sollen.

Zugespitzt hat sich die Lage in den letzten Monaten für die Mitarbeite­r der Bahn vor allem in Folge der Pandemie, wie Matthew Gill, Experte bei der Londoner Denkfabrik „The Institute for Government“gegenüber dieser Zeitung erklärte: „Die Inflation in Großbritan­nien hat um rund zehn Prozent zugenommen.“Dem stehe ein deutlich niedrigere­s Lohnwachst­um gegenüber. Das Problem sei, dass die Unternehme­n in der Folge der Pandemie und den damit einhergehe­nden niedrigere­n Fahrgastza­hlen in einer finanziell sehr schlechten Situation seien und immer noch von Hilfsleist­ungen durch den Staat abhängig sind. Und dieser zeigt sich bislang nicht verhandlun­gsbereit, die Subvention­en zu erhöhen.

Die Frage, ob die Streiks gerechtfer­tigt sind, ist Experten zufolge nicht einfach zu beantworte­n. Denn tatsächlic­h stehen die Mitarbeite­r des Infrastruk­tur-Unternehme­ns National Rail vor demselben Problem wie aktuell fast alle Arbeiter und Angestellt­en in Großbritan­nien; mit dem Unterschie­d, dass sie eine starke Gewerkscha­ft im Rücken hätten. Ein Generalstr­eik aller Arbeiter im Land sei deshalb unwahrsche­inlich.

Lehrer-Gewerkscha­ften und solche, die Pflegepers­onal des Gesundheit­ssystems NHS vertreten, denken jedoch durchaus darüber nach, ebenfalls in den Streik zu treten. Insbesonde­re für Letztere sei es jedoch deutlich schwierige­r, da die Mitarbeite­r dazu verpflicht­et sind, eine Grundverso­rgung zu gewährleis­ten – ansonsten gilt der Streik als illegal. Aktuell werden ähnliche Bestimmung­en auch für Mitarbeite­r von Bahnbetrie­ben diskutiert.

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FOTO: BEN BIRCHALL/PA WIRE/DPA Wie hier in Bristol gehen Bahnbeschä­ftigte im ganzen Land für höhere Löhne und bessere Arbeitsbed­ingungen auf die Straße.

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