Die Europäische Union macht es sich einmal mehr zu leicht
Als Robert Schuman vor 72 Jahren den Grundstein für die Entwicklung der heutigen Europäischen Union legte, begann der damalige französische Außenminister seine Erklärung mit prophetischen Worten. „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“Dann skizzierte Schuman seine Vision eines europäischen Bündnisses. Solidarität, Frieden, die Verbesserung der Lebensverhältnisse: Er beschwor das Ziel der „Vereinigung der europäischen Nationen“.
Wenn heute die 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel zum Gipfel zusammenkommen, reden sie auch über die Zukunft der Gemeinschaft. Das Treffen steht im Zeichen der Erweiterung, nachdem die EU-Kommission vergangene Woche empfohlen hatte, die Ukraine sowie Moldau offiziell zu Kandidaten für den EU-Beitritt zu ernennen. Die Mitgliedsstaaten werden wohl zustimmen.
Doch sehr viel wert ist dieses Versprechen nicht. Die Ukraine ist in der Realität Jahrzehnte von einer Mitgliedschaft entfernt. Es handelt sich hier um reine Symbolpolitik der 27 Staatenlenker. Diese einfache, vermeintlich große Solidaritätsgeste kostet sie nichts. Ob es sich derweil als gute Idee herausstellt, in Kiew solch hohe Erwartungen zu schüren, darf bezweifelt werden.
Die EU sollte die lautstark geäußerten Beitritts-Bestrebungen der Ukraine sowie der WestbalkanLänder lieber zum Anlass nehmen, sich an den europäischen Gründungsvater Schuman zu erinnern. Wie selten zuvor braucht es eine gemeinsame und mutige Vision.
Obwohl in Europa mit dem Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine eine neue Zeitrechnung angebrochen ist, dürfen nicht alle Tabus fallen. Es wäre ein fataler Fehler, von dem komplexen Prozess und den Anforderungen abzurücken, die für EU-Anwärter gelten, sonst steht die Zukunft des Projekts als Ganzes auf dem Spiel. Vielmehr sollte die Gemeinschaft diesen Moment für Reformen nutzen. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass die Kriterien zum Beitritt zwar streng sind und man zu Recht eine funktionierende Demokratie vorweisen muss. Aber einmal im Club herrschte bislang beinahe Narrenfreiheit. Niemandem ist bei der Einführung der Standards in den Sinn gekommen, dass Länder Prinzipen wie Rechtsstaatlichkeit auch wieder zurücknehmen oder Korruption zum Teil des Systems machen könnten.
Wie verhängnisvoll dieses Versäumnis war, zeigt sich in Polen und Ungarn. Ob die Regierung in Warschau oder der autoritär regierende Viktor Orban – sie verletzen vor den entsetzten Augen der zu lange tatenlos zuschauenden Kommission seit geraumer Zeit systematisch europäisches Recht und würden nach heutigem Stand nicht einmal mehr die Aufnahmebedingungen erfüllen. Gleichwohl nehmen sie bei Abstimmungen gerne die EU in Geiselhaft und bremsen mit Blockaden die Union aus, weil sie alle Entscheidungen einer persönlichen Kosten-Nutzen-Analyse unterwerfen. Erst muss der Rechtsstaatsmechanismus, das neue Instrument zur Wahrung der in der EU geltenden Werte, funktionieren, bevor EU-Träumer nur beginnen, ernsthaft über eine Erweiterung des Clubs nachzudenken.