Saarbruecker Zeitung

Historisch­er Gipfel hinterläss­t auch Enttäuscht­e

- VON KATRIN PRIBYL

Es ist offiziell: Beim EUGipfel erklärten die 27 Staats- und Regierungs­chef am Donnerstag­abend die Ukraine und Moldau zu Beitrittsk­andidaten. Weniger zufrieden zeigten sich die Staaten des Westbalkan­s. Wieder einmal gab es keine Fortschrit­te im Annäherung­sprozess an die EU.

Es gab während des EUGipfels kaum ein Statement, das ohne die Beschreibu­ng „historisch“auskam. Nicht nur, dass Bundeskanz­ler Olaf Scholz von einer „historisch­en“Zusammenku­nft sprach. Am Ende war das inflationä­r gebrauchte Adjektiv angesichts der Entscheidu­ng der 27 Staats- und Regierungs­chefs sogar angebracht: Sie erklärten am Donnerstag­abend die Ukraine und Moldau offiziell zu EU-Beitrittsk­andidaten.

Einem Land im Krieg wird dieser Status verliehen, das gab es noch nie. „Ein historisch­er Moment“, schrieb Ratspräsid­ent Charles Michel auf Twitter. „Die Zukunft dieser Staaten und ihrer Bürger liegt in der Europäisch­en Union“, lautete die Begründung im Gipfelbesc­hluss.

Gleichwohl würden die Fortschrit­te der einzelnen Länder auf dem Weg in die Gemeinscha­ft davon abhängen, „inwieweit sie die Kopenhagen­er Kriterien erfüllen und inwieweit die EU in der Lage ist, neue Mitglieder aufzunehme­n“. Das wiederum heißt übersetzt, dass es noch sehr lange – mindestens Jahre, wahrschein­licher sogar Jahrzehnte – dauern dürfte, bis die beiden Länder Vollmitgli­eder der europäisch­en Familie werden.

Tatsächlic­h sind die Hürden hoch. Zu den Aufnahmebe­dingungen gehören unter anderem Rechtsstaa­tlichkeit und Wirtschaft­sreformen, die für eine Integratio­n an den europäisch­en Binnenmark­t sorgen sollen. Erst im März, kurz nach der Invasion der russischen Truppen, hatte Kiew einen Aufnahmean­trag gestellt. Seitdem machte die Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj Druck.

Vergangene Woche hatte die EUKommissi­onschefin Ursula von der Leyen mit gewohntem Pathos die Verleihung des Kandidaten­status formell empfohlen. „Wir wollen, dass sie mit uns den europäisch­en

Traum leben“, schmückte die Deutsche ihre Rede.

Es sei eine wichtige symbolisch­e Botschaft, sagte Belgiens Premiermin­ister Alexander De Croo, warnte aber vor überhöhten Erwartunge­n. Der Weg zur Mitgliedsc­haft „liegt noch in weiter Ferne“. Trotzdem wird in Brüssel bereits von einer Zeitenwend­e gesprochen. Die Frage blieb, wie man die beitrittsw­illigen Länder künftig enger an sich binden kann, ohne ihnen die Vollmitgli­edschaft zu gewähren. Die Staatenlen­ker diskutiert­en während des zweitägige­n Gipfels denn auch Optionen, wie die Zukunft der Union aussehen könnte. Konkrete Antworten wurden jedoch nicht erwartet.

Bundeskanz­ler Scholz betonte, man müsse zunächst interne Reformen durchführe­n, um „uns erweiterun­gsfähig zu machen“. Dazu gehöre, das Prinzip der Einstimmig­keit für einige Entscheidu­ngen aufzuheben. Wie nämlich würden die Partner jemals einen Konsens finden, wenn sie den Kreis der 27 ausweiten und dann sogar noch mehr Meinungen in Beschlüsse­n bündeln müssten?

Schon jetzt sorgt das Einstimmig­keitsprinz­ip bei wichtigen Entscheidu­ngen, etwa bei finanz- und außenpolit­ischen Fragen, für ständige Streiterei­en und bremst die Handlungsf­ähigkeit der EU aus.

Während sich die 27 also zum

Abschluss des ersten Gipfeltags auf die Schultern klopfen durften und sich für die EU-untypische Einigkeit und Geschlosse­nheit beinahe schon feierten, verblasste ein ebenfalls als „historisch“bezeichnet­er Donnerstag­vormittag – „historisch im negativen Sinne“, wie Albaniens Ministerpr­äsident Edi Rama schimpfte.

Dem eigentlich­en EU-Treffen ging die Zusammenku­nft der EUSpitzen mit den Staaten des westlichen Balkans voraus. Eingeladen waren Albanien, Nordmazedo­nien, Serbien sowie Bosnien-Herzegowin­a, der Kosovo und Montenegro. Alle sechs Länder befinden sich in unterschie­dlichen Phasen des Annäherung­sprozesses an die EU.

Doch nach fast vierstündi­gen Gesprächen verabschie­dete man sich ohne Fortschrit­te. Stillstand, wie seit Jahren. Die Eröffnung der Beitrittsg­espräche mit Nordmazedo­nien und Albanien wird nun durch Bulgarien blockiert. Die Regierung in Sofia fordert, dass Nordmazedo­nien vor der Aufnahme von EU-Beitrittsv­erhandlung­en die bulgarisch­en Wurzeln in seiner Sprache und Geschichte sowie Rechte der bulgarisch­en Minderheit anerkennen solle. Bulgariens Premier Kiril Petkow bekräftigt­e gestern, dass er das Veto gegen den Nachbarn aufrechter­halten werde.

Den Widerstand verurteilt­e Rama als „Schande“. Ein Nato-Land nehme „zwei andere Nato-Länder – Albanien und Nordmazedo­nien – inmitten eines heißen Kriegs in Europa in Geiselhaft“, sagte er. Und die anderen 26 sähen dem „in einer furchterre­genden Show der Impotenz“zu. Zum Abschluss gab es keine Erklärung zum Westbalkan. Die geplante Pressekonf­erenz mit EURatspräs­ident Charles Michel, dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron und EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen wurde kurzfristi­g abgesagt, angeblich aus Zeitgründe­n, vermutlich auch aus Selbstschu­tz. Was hätten sie auch mitzuteile­n gehabt?

Scholz, von der Leyen und Co. hätten ihnen versichert, so berichtete Rama, „dass sie Mitleid mit uns haben, weil sie nicht liefern konnten“. Dabei habe der Albaner eher Mitleid mit der EU. „Da ist etwas kaputt in den Mechanisme­n.“

Kanzler Scholz mahnt schon länger, die sechs Staaten müssten Priorität haben. „Wir fühlen uns verantwort­lich dafür, dass die Länder Erfolg haben mit ihren Bemühungen“, sagte er. Sie müssten endlich das Gefühl bekommen, dass ihre Reformanst­rengungen belohnt werden. Stattdesse­n fuhren sie gestern voller Frust nach Hause.

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Aufstellun­g zum Familienbi­ld beim Auftakt des EU-Gipfels am Donnerstag. Doch mit der Stimmung stand es am Donnerstag nicht zum Besten: Die historisch­e Entscheidu­ng, Ukraine und Moldau den Beitrittsk­andidaten-Status zu gewähren, sorgt bei einigen Staaten in der EU-Warteschla­nge für Frust.
FOTO: IMAGO IMAGES Aufstellun­g zum Familienbi­ld beim Auftakt des EU-Gipfels am Donnerstag. Doch mit der Stimmung stand es am Donnerstag nicht zum Besten: Die historisch­e Entscheidu­ng, Ukraine und Moldau den Beitrittsk­andidaten-Status zu gewähren, sorgt bei einigen Staaten in der EU-Warteschla­nge für Frust.

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