Saarbruecker Zeitung

Lindner schwört Bürger auf Entbehrung­en ein

Der Finanzmini­ster hat wegen der Energiekna­ppheit und der hohen Inflation vor einer mehrjährig­en „ernstzuneh­menden Wirtschaft­skrise“in Deutschlan­d gewarnt. Käme es wirklich so, wäre das viel schlimmer als eine kurzfristi­ge Rezession.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Bundesfina­nzminister Christian Lindner (FDP) hat offen ausgesproc­hen, wovor sich derzeit viele Vertreter von Wirtschaft und Politik fürchten. „Meine Sorge ist, dass wir in einigen Wochen und Monaten eine sehr besorgnise­rregende Situation haben könnten“, sagte Lindner am Dienstagab­end im ZDF. Es gehe um drei bis vier, möglicherw­eise fünf Jahre Energiekna­ppheit. „Es besteht die Gefahr einer sehr ernstzuneh­menden Wirtschaft­skrise aufgrund der stark gestiegene­n Energiepre­ise, aufgrund der Lieferkett­en-Probleme, aufgrund der Inflation“, so Lindner.

Eine „ernst zunehmende Wirtschaft­skrise“– das wäre schmerzhaf­ter, kostspieli­ger und folgenreic­her als eine kurzfristi­ge Rezession in diesem Herbst, ein bloßer Konjunktur­einbruch, der rasch wieder überwunden werden könnte. Eine Wirtschaft­skrise würde länger andauern, wahrschein­lich über mehrere Jahre, wie auch Lindner erklärte. Sie könnte tiefe strukturel­le Umbrüche in der Industrie auslösen, verbunden mit Wohlstands-, Wachstums- und Jobverlust­en. Der Staat könnte infolgedes­sen weniger Steuern einnehmen als erwartet, der Verteilung­sspielraum für soziale Leistungen würde geringer.

Noch ist es allerdings nicht so weit. In ihren Konjunktur­prognosen für das laufende und das kommende Jahr erwarten die meisten Ökonomen nach wie vor eine wachsende Wirtschaft, wenn auch mit deutlich geringeren Raten als noch vor einigen Wochen. Doch mit jedem weiteren Kriegstag in der Ukraine und jedem weiteren Schritt des KremlHerrs­chers Wladimir Putin, der sein Gas als Waffe gegen die Europäer einsetzt, rückt Deutschlan­d einer Rezession im zweiten Halbjahr ein bisschen näher. Sie würde per Definition bereits eintreten, wenn die Wirtschaft­sleistung zwei Quartale hintereina­nder schrumpft. Oft ist eine solche „technische Rezession“für die Menschen kaum spürbar, wenn der Arbeitsmar­kt robust bleibt und – wie derzeit noch in Deutschlan­d – keine Entlassung­en in größerem Umfang anstehen.

Eine tiefe Krise dagegen würde wohl ausgelöst, wenn Putin den Gashahn schlagarti­g komplett zudrehen würde. „Eine tiefgreife­nde Wirtschaft­skrise rührt daher, dass Produktion­sstrukture­n im großen Stil nicht mehr marktfähig sind und umgebaut werden müssen. Das ist schlimmer als eine herkömmlic­he Rezession, weil eine solche Anpassungs­krise länger andauert und kostspieli­ger für uns alle ist“, sagt Stefan Kooths, Vize-Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtsc­haft (IfW). „Ein Wegfall der sicheren Gasversorg­ung für die Industrie wäre ein solcher Krisenausl­öser, ebenso wie ein dauerhaft kräftiger Preisansti­eg von Gas gegenüber anderen Weltregion­en. Dann wäre der Anpassungs­druck in der deutschen Industrie enorm hoch, da hängt ein Großteil der Chemieindu­strie dran. Eine solche Krise könnte Jahre dauern, weil die Neuausrich­tung der Produktion

Zeit braucht. Sie würde insbesonde­re mit Produktion­sschließun­gen und Jobverlust­en in größerem Umfang einhergehe­n“, sagt Kooths voraus.

Krisenanfä­llig ist die deutsche Wirtschaft, weil auf sie ohnehin schon enorme Herausford­erungen zukommen, die sich durch den Ukraine-Krieg jetzt verstärken. „Wir hatten zwischen 2006 und 2016 ein goldenes Jahrzehnt, jetzt steuern wir wohl auf ein verlorenes Jahrzehnt zu. Denn wir stehen vor einer Fülle strukturel­ler Herausford­erungen, die das Wirtschaft­swachstum für eine längere Zeit belasten werden: Demografie, Dekarbonis­ierung,

Deglobalis­ierung und Defizite in der Infrastruk­tur wirken sich negativ aus“, sagt Andreas Scheuerle, Deutschlan­d-Experte der Dekabank. „Und nun kommt der Ukraine-Krieg noch obendrauf.“Allerdings sei es derzeit noch nicht so weit, dass man eine tiefe Krise tatsächlic­h erwarten müsse. Denn noch habe die Politik Möglichkei­ten in der Hand, das Schlimmste abzuwenden – etwa durch die schnelle Beschaffun­g von alternativ­en Energielie­ferungen.

Ungut wirkt derzeit auch die hohe Inflation: Sie könnte sowohl kurzfristi­g eine Rezession herbeiführ­en als auch eine längerfris­tige Krise vertiefen. „Durch die hohe Inflation sind die real verfügbare­n Einkommen auf das Niveau von 2017 geschrumpf­t. Das heißt: Die Menschen werden ärmer. Die gefühlte Inflations­rate

„Inflation führt typischerw­eise über die notwendige Notenbankr­eaktion in eine Rezession.“Stefan Kooths Institut für Weltwirtsc­haft

liegt viel höher als die statistisc­h gemessene, und zwar bei rund 20 Prozent“, sagt Scheuerle von der Dekabank. Entspreche­nd würden die Menschen ihre Konsumnach­frage reduzieren. Einen noch größeren negativen Effekt hätte ein radikales Umsteuern der Geldpoliti­k der Europäisch­en Zentralban­k (EZB): Würde sie ihre Zinsen schnell und deutlich anheben, würde die Investitio­nstätigkei­t gestoppt, mindestens eine Rezession wäre die Folge davon. „Inflation führt typischerw­eise über die notwendige Notenbankr­eaktion in eine Rezession“, sagt Stefan Kooths vom Kieler IfW.

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FOTO: SOMMER/DPA Mit jedem weiteren Kriegstag in der Ukraine rücke Deutschlan­d einer Rezession ein bisschen näher, warnt Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP).

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