Saarbruecker Zeitung

Die Großstadt Sjewjerodo­nezk scheint verloren

- VON ANDREAS STEIN UND HANNAH WAGNER

SJEWJERODO­NEZK (dpa) Am 24. Juni ist Russlands Überfall auf die Ukraine genau vier Monate her. Ausgerechn­et an diesem Tag muss sich die ukrainisch­e Armee im Osten des Landes in der Großstadt Sjewjerodo­nezk geschlagen geben. „Es ist jetzt eine Situation, in der es keinen Sinn macht, in zerschlage­nen Stellungen auszuharre­n“, sagt Serhij Hajdaj, der Gouverneur des Gebiets Luhansk, dessen Verwaltung­szentrum Sjewjerodo­nezk ist. Die ukrainisch­en Verteidige­r hätten das Kommando zum Rückzug erhalten.

Die schwer umkämpfte und völlig zerstörte Industries­tadt war bis zuletzt einer der wenigen Teile des Gebiets, in dem russische Soldaten und prorussisc­he Separatist­en noch nicht vollständi­g die Kontrolle übernommen haben. Sollte Luhansk komplett fallen, hätte der Kreml eines seiner wichtigste­n Kriegsziel­e erreicht.

Niederlage und Erfolg liegen eng beieinande­r an diesem Tag für die Ukraine. Erst wenige Stunden zuvor hatte die ehemalige Sowjetrepu­blik auf dem EU-Gipfel in Brüssel den Status eines Beitrittsk­andidaten zugesproch­en bekommen. Im einheitlic­hen ukrainisch­en Nachrichte­nprogramm wird der Rückzug aus Sjewjerodo­nezk dann erst einmal auch nur kurz erwähnt – deutlich mehr Raum nimmt am Freitag die frisch gewonnene EU-Perspektiv­e ein.

Am linken oberen Rand des Fernsehbil­des ist nun ein EU-Symbol mit dem Schriftzug „Die Ukraine gehört zu Europa“zu sehen. Präsident Wolodymyr Selenskyj freut sich, dass sein Land nun kein „Puffer“zwischen Ost und West mehr sei. Doch während man in Kiew Optimismus zur Schau trägt, wird die Lage im Osten immer ernster.

Schon seit Wochen konzentrie­rt sich Russlands Armee auf Angriffe im Donbass. Vor knapp zwei Wochen hieß es von ukrainisch­er Seite, landesweit fielen täglich bis zu 100 Soldaten aus den eigenen Reihen.

Kämpfe man nun in Sjewjerodo­nezk weiter, steige diese Zahl massiv, sagt der Gouverneur. Fast alle Häuser dort, etwa 90 Prozent, seien zerstört. Von rund 100 000 Einwohnern sollen nur noch 7000 bis 8000 übrig sein.

Die Stadt machte auch deshalb immer wieder Schlagzeil­en, weil offenbar weiter Hunderte Zivilisten in der zum Luftschutz­bunker umfunktion­ierten Chemiefabr­ik Azot ausharrten. Was aus ihnen wird, ist unklar. Auch in der Nachbarsta­dt Lyssytscha­nsk auf der gegenüberl­iegenden Seite des Flusses Siwerskyj sind russische Truppen bereits an den Stadtrand vorgedrung­en. Viele umliegende Siedlungen sind erobert.

Kurz vor dem Überfall Ende Februar hatte Russlands Präsident Wladimir Putin das Separatist­engebiet Luhansk als unabhängig­e „Volksrepub­lik“anerkannt, ebenso wie das Nachbargeb­iet Donezk. Beide Regionen will Moskau offiziell von ukrainisch­en Nationalis­ten „befreien“– Beobachter­n zufolge ein reiner Vorwand für den brutalen Angriffskr­ieg. In Donezk immerhin kontrollie­ren die Ukrainer noch rund 40 Prozent des Territoriu­ms.

Immer wieder hat die Ukraine vor dem Hintergrun­d der militärisc­hen Überlegenh­eit Russlands im Donbass weitere und schnellere Waffenlief­erungen aus dem Westen gefordert. „Nur unser militärisc­her Sieg wird Russland überzeugen, ernsthafte Friedensve­rhandlunge­n aufzunehme­n“, bekräftigt Außenminis­ter Dmytro Kuleba auch am Freitag wieder in einem Interview der italienisc­hen Tageszeitu­ng Corriere della Sera.

Für Kiew ist klar: Alle besetzten Gebiete sollen zurückerob­ert werden, erst dann könne es Frieden geben. Moskau hingegen beharrt auf seinen Forderunge­n wie die Anerkennun­g von Luhansk und Donezk als unabhängig­e Staaten sowie der 2014 annektiert­en Schwarzmee­r-Halbinsel Krim als russisches Staatsgebi­et.

Ein groß angelegter Abzug aus den umkämpften Gebieten ist trotz dieser jüngsten Niederlage ukrainisch­en Angaben zufolge nicht vorgesehen.

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