Ein ganz großes kleines Stück Erzähltheater
„Paul oder Im Frühling ging die Erde unter“in der unterirdischen Burg des Historischen Museums Saar.
SAARBRÜCKEN Robert Musil hätte wohl seine Freude an ihm gehabt, denn Paul ist ein Mann ohne Eigenschaften. Ohne herausragende jedenfalls: Paul verfügt über keinerlei Talente, die einen Status als Außenseiter rechtfertigen würden. Zumindest gefühlt ist er jedoch einer; „ein Freak“, so die Selbstbezichtigung – ein Einzelgänger, der wenig kennt außer die fade Arbeit im Großraumbüro, die Besuche bei seiner Mutter und das wöchentliche Singen im Herrenchor.
Aber jetzt, da wegen der CoronaPandemie Kontaktverbot herrscht, da vermisst er sie plötzlich: die Menschen, die er sich sonst immer weg wünscht. Nicht einmal „ein belangloses sexuelles Erlebnis“hat er. Paul möchte raus, er will sein normales Leben zurück. Und das katapultiert ihn gedanklich zurück in seine Jugend, als er es an einem heißen Sommersonntag ebenfalls nicht mehr in den eigenen vier Wänden aushält und ihn an einem Badesee die Liebe erwischt.
Pauls homosexuelles Coming Out steht ganz am Ende einer grandiosen Erinnerungsodyssee, die Sibylle Berg in ihrem Monolog „Paul oder Im Frühling ging die Erde unter“formuliert hat. Ihrem Ruf als scharfzüngige Chronistin und Fachfrau fürs Zynische wird die Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin damit erneut gerecht, offenbart jedoch zugleich einen sehr sensiblen und empathischen Blick fürs Tragikomische und lakonisch gemeistertes Scheitern. Ursprünglich hatte sie das Solo für den Charakter-Darsteller Benny Claessens geschrieben, der es unter der Regie von Ersan Mondtag 2020 auf dem Kunstfest Weimar uraufführte. „Eine derbe Enttäuschung“, urteilte der Kritiker des Deutschlandfunks, weil die Inszenierung den Text nicht ernst nehme und zur „Trash-Show“verkitsche. „Schnickschnack überall“, lautete das vernichtende Urteil.
Genau diesen Fehler begeht Regisseurin Lucia Reichard in ihrer Arbeit fürs Saarländische Staatstheater (SST) nun nicht: Sie setzt vielmehr auf das krasse Gegenteil und vertraut zu Recht allein auf die Schauspielkunst Bernd Geilings. Der gräbt als Paul seine Kindheit und Jugend hier in der von keinerlei Bühnenbild vermurksten unterirdischen Burg des Historischen Museums Saar aus. Ein besserer Aufführungsort, um wie ein Seelenarchäologe den inneren Keller und dabei auch Verhältnis zur eigenen Mutter zu erforschen, lässt sich schwer denken. Und Geiling, mit 60 Jahren ältester Mime im SST-Ensemble, nimmt die Herausforderung begeistert an und spielt mit dem Raum; er erkundet ihn mit geradezu kindlichem Entdeckertrieb und erzählt mit plastischer Fabulierlust.
Wobei in der Perspektive des Jugendlichen stets die resignierte Sehnsucht des Erwachsenen durchschimmert, der weiß, dass die größten Sensationen bereits passé sind oder sich schlicht gar nicht erfüllen: Rückblickend redet Paul mit selbstironischer Distanz stets in der dritten Person von sich; er ist „der Junge“– der 15-Jährige, der gerne „ein interessanter Mensch“wäre und es „in Erwägung zieht“, ein Rock- oder Schlagerstar zu werden.
Obwohl (oder gerade weil) er als alleinerziehendes Kind mit unbekanntem Vater immer gehänselt wird. Herrlich, wie Geiling hier mit Luftgitarre beziehungsweise treudoofem Dackelblick sämtliche Musiker-Klischees durch den Kakao zieht. Und ahnte man bisher nicht, was für ein guter Sänger beziehungsweise Stimmkünstler und Improvisator Geiling ist: Spätestens, nachdem man erlebt hat, wie er hier eine ganze Freejazz-Kapelle darstellt, weiß man‘s.
Dabei kommt Geiling ohne Requisiten aus; Dinge wie Staubsauger oder ähnliches werden einfach behauptet, und just darin liegt jede Menge Witz. Zum Komplizen und Mitspieler mutiert lediglich ein mobiler Bühnenstrahler namens „Shiny“(Ausstattung: Matthias Kowall), dem Paul sich anvertraut und der all seine Erinnerungen oder Imaginationen ins rechte Licht rückt: Die Gespenster der Vergangenheit werden als Schatten lebendig.
Das vielleicht größte Verdienst dieser Inszenierung jedoch ist, dass es trotz sehr intimer und emotionaler Momente nie peinlich wird, weil sowohl Reichard wie Geiling stets rechtzeitig die Notbremse ziehen. Ein ganz großes kleines Stück Erzähltheater darf man hier bejubeln. Und wenn Geiling am Ende ins Publikum blickt und zweifelnd fragt „Kennen wir uns nicht?“, dann vergegenwärtigt man sich des eigenen Lebens mit all seinen pubertären Nöten, verpatzten Gelegenheiten und Hoffnung geblieben Wünschen und denkt wehmütig: Ja, Paul, wir kennen einander.
Weitere Aufführungen: 1./6./9./12. Juli, je 20 Uhr, Historisches Museum. Karten: Tel. (06 81) 30 92-4 86, www.staatstheater.saarland