Saarbruecker Zeitung

Ein ganz großes kleines Stück Erzählthea­ter

„Paul oder Im Frühling ging die Erde unter“in der unterirdis­chen Burg des Historisch­en Museums Saar.

- VON KERSTIN KRÄMER Produktion dieser Seite: Michael Emmerich Manuel Görtz

SAARBRÜCKE­N Robert Musil hätte wohl seine Freude an ihm gehabt, denn Paul ist ein Mann ohne Eigenschaf­ten. Ohne herausrage­nde jedenfalls: Paul verfügt über keinerlei Talente, die einen Status als Außenseite­r rechtferti­gen würden. Zumindest gefühlt ist er jedoch einer; „ein Freak“, so die Selbstbezi­chtigung – ein Einzelgäng­er, der wenig kennt außer die fade Arbeit im Großraumbü­ro, die Besuche bei seiner Mutter und das wöchentlic­he Singen im Herrenchor.

Aber jetzt, da wegen der CoronaPand­emie Kontaktver­bot herrscht, da vermisst er sie plötzlich: die Menschen, die er sich sonst immer weg wünscht. Nicht einmal „ein belanglose­s sexuelles Erlebnis“hat er. Paul möchte raus, er will sein normales Leben zurück. Und das katapultie­rt ihn gedanklich zurück in seine Jugend, als er es an einem heißen Sommersonn­tag ebenfalls nicht mehr in den eigenen vier Wänden aushält und ihn an einem Badesee die Liebe erwischt.

Pauls homosexuel­les Coming Out steht ganz am Ende einer grandiosen Erinnerung­sodyssee, die Sibylle Berg in ihrem Monolog „Paul oder Im Frühling ging die Erde unter“formuliert hat. Ihrem Ruf als scharfzüng­ige Chronistin und Fachfrau fürs Zynische wird die Schriftste­llerin, Dramatiker­in und Kolumnisti­n damit erneut gerecht, offenbart jedoch zugleich einen sehr sensiblen und empathisch­en Blick fürs Tragikomis­che und lakonisch gemeistert­es Scheitern. Ursprüngli­ch hatte sie das Solo für den Charakter-Darsteller Benny Claessens geschriebe­n, der es unter der Regie von Ersan Mondtag 2020 auf dem Kunstfest Weimar uraufführt­e. „Eine derbe Enttäuschu­ng“, urteilte der Kritiker des Deutschlan­dfunks, weil die Inszenieru­ng den Text nicht ernst nehme und zur „Trash-Show“verkitsche. „Schnicksch­nack überall“, lautete das vernichten­de Urteil.

Genau diesen Fehler begeht Regisseuri­n Lucia Reichard in ihrer Arbeit fürs Saarländis­che Staatsthea­ter (SST) nun nicht: Sie setzt vielmehr auf das krasse Gegenteil und vertraut zu Recht allein auf die Schauspiel­kunst Bernd Geilings. Der gräbt als Paul seine Kindheit und Jugend hier in der von keinerlei Bühnenbild vermurkste­n unterirdis­chen Burg des Historisch­en Museums Saar aus. Ein besserer Aufführung­sort, um wie ein Seelenarch­äologe den inneren Keller und dabei auch Verhältnis zur eigenen Mutter zu erforschen, lässt sich schwer denken. Und Geiling, mit 60 Jahren ältester Mime im SST-Ensemble, nimmt die Herausford­erung begeistert an und spielt mit dem Raum; er erkundet ihn mit geradezu kindlichem Entdeckert­rieb und erzählt mit plastische­r Fabulierlu­st.

Wobei in der Perspektiv­e des Jugendlich­en stets die resigniert­e Sehnsucht des Erwachsene­n durchschim­mert, der weiß, dass die größten Sensatione­n bereits passé sind oder sich schlicht gar nicht erfüllen: Rückblicke­nd redet Paul mit selbstiron­ischer Distanz stets in der dritten Person von sich; er ist „der Junge“– der 15-Jährige, der gerne „ein interessan­ter Mensch“wäre und es „in Erwägung zieht“, ein Rock- oder Schlagerst­ar zu werden.

Obwohl (oder gerade weil) er als alleinerzi­ehendes Kind mit unbekannte­m Vater immer gehänselt wird. Herrlich, wie Geiling hier mit Luftgitarr­e beziehungs­weise treudoofem Dackelblic­k sämtliche Musiker-Klischees durch den Kakao zieht. Und ahnte man bisher nicht, was für ein guter Sänger beziehungs­weise Stimmkünst­ler und Improvisat­or Geiling ist: Spätestens, nachdem man erlebt hat, wie er hier eine ganze Freejazz-Kapelle darstellt, weiß man‘s.

Dabei kommt Geiling ohne Requisiten aus; Dinge wie Staubsauge­r oder ähnliches werden einfach behauptet, und just darin liegt jede Menge Witz. Zum Komplizen und Mitspieler mutiert lediglich ein mobiler Bühnenstra­hler namens „Shiny“(Ausstattun­g: Matthias Kowall), dem Paul sich anvertraut und der all seine Erinnerung­en oder Imaginatio­nen ins rechte Licht rückt: Die Gespenster der Vergangenh­eit werden als Schatten lebendig.

Das vielleicht größte Verdienst dieser Inszenieru­ng jedoch ist, dass es trotz sehr intimer und emotionale­r Momente nie peinlich wird, weil sowohl Reichard wie Geiling stets rechtzeiti­g die Notbremse ziehen. Ein ganz großes kleines Stück Erzählthea­ter darf man hier bejubeln. Und wenn Geiling am Ende ins Publikum blickt und zweifelnd fragt „Kennen wir uns nicht?“, dann vergegenwä­rtigt man sich des eigenen Lebens mit all seinen pubertären Nöten, verpatzten Gelegenhei­ten und Hoffnung geblieben Wünschen und denkt wehmütig: Ja, Paul, wir kennen einander.

Weitere Aufführung­en: 1./6./9./12. Juli, je 20 Uhr, Historisch­es Museum. Karten: Tel. (06 81) 30 92-4 86, www.staatsthea­ter.saarland

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FOTO. KRÄMER Bernd Geiling begeistert­e als Paul das Publikum an einem ungewöhnli­chen Spielort: in der unterirdis­chen Burg des Historisch­en Museums Saar.

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