Entschleunigt durchs Hinterland der Bretagne
Die Bretagne, das ist mehr als schroffe Küsten, Sandstrände und pittoreske Fischerorte. Mit dem Hausboot lässt sich das bretonische Hinterland total entschleunigt erkunden. Eine Reise fern jeder Hektik und ganz nahe an der Natur.
REDON/BRETAGNE Morgens um acht. Das Wasser ist glatt wie ein Spiegel, die Vögel zwitschern, die Luft ist feucht und frisch, die ersten Sonnenstrahlen wärmen schon an diesem schönen Mai-Tag. Kein anderes Boot ist in Sichtweite. Wir hatten an der Ile aux Pies im Tal der Oust für die Nacht festgemacht, einem Kletter- und Kanuparadies. Jetzt heißt es, erst mal das Deck und die Bezüge trocken wischen, um dann draußen zu frühstücken. In der Bretagne herrscht auch im Binnenland ein feuchtes Klima. Tagelanger Regen? Nicht auf dieser Tour!
Die Ile aux Pies ist die dritte Station auf unserer viertägigen HausbootFahrt auf den Flüssen und Kanälen rund um die einst bedeutendste bretonische Binnen-Hafenstadt Redon, über die das wunderschöne Rennes, das Tor zur Bretagne, jahrhundertelang bis in die 1950er-Jahre mit wichtigen Gütern, darunter Salz, Holz und Baumaterialien, versorgt wurde. Im 9. Jahrhundert gründeten Benediktiner in Redon die Abtei St. Sauveur, von der noch das romanische Kirchenschiff aus dem 11. Jahrhundert und einer der Türme aus dem 12. Jahrhundert erhalten sind. Gerade wird renoviert. In Redon treffen sich der Fluss La Vilaine und der Nantes-Brest-Kanal – und das macht die Stadt für Hausboot-Fahrer zu einem spannenden Verkehrsknotenpunkt mit hübschem Hafen, reicher Geschichte und zwei Schleusen.
Eine davon nehmen wir in Richtung Brest. Man hupt, dann macht der Schleusenwärter das Tor auf und fährt die Zugbrücke für den Autoverkehr hoch. Jetzt muss die Crew die Leinen an den Pollern festmachen und sicherstellen, dass das 15 Meter lange Boot nicht aneckt. Nach ein paar Schleusengängen ist das Routine – nur für die enge Kurve braucht man ein bisschen Manövrier-Talent. Und natürlich fürs „Rückwärts-Einparken“im engen Hafen – aber das ist eine andere Geschichte. Es dauert jedenfalls nur wenige Minuten und wir können auf den Nantes-Brest-Kanal einbiegen Richtung La Gacilly an der Aff, unserem Tages- und Übernachtungsziel.
230 Kilometer wären es bis nach Brest an der Atlantik-Küste. Vom Ärmelkanal im Norden bis nach Nantes im Süden durchzieht ein mehr als 600 Kilometer langes Netz aus Wasserwegen mit insgesamt 236 Schleusen das Hinterland der Bretagne, die Region „Loire Océan“. Einst waren sie wichtige Handelsrouten, um vor allem das Salz vom Meer ins Landesinnere zu bringen, später dann auch andere wichtige Güter. Das Besondere an diesem Fahrgebiet: Kanalisierte Strecken des NantesBrest-Wasserwegs wechseln sich immer wieder über weite Strecken ab mit meist ursprünglichen, idyllischen Flusstälern wie das der Vilaine und der noch kleineren Flüsse Oust und Aff.
Am frühen Abend des zweiten Tages biegen wir an der Aff-Mündung ein in Richtung La Gacilly. Jetzt sind es noch gut zehn Kilometer bis zu unserem Ziel. Dafür braucht das Boot fast zwei Stunden, denn auf dem engen, verwunschenen Flüsschen mit seinen tief hängenden Bäumen und sumpfigen Ufern gibt es eine Geschwindigkeitsbeschränkung: sechs Stundenkilometer.
Entschleunigung ist also Programm beim Hausboot-Fahren.
Nichts für Hektiker – oder gerade doch? Maximal zwölf Kilometer pro Stunde sind möglich, bei Vollgas. Und so tuckern wir noch gemächlicher als zuvor dahin. Der beste Platz im traumhaften, gedämpften Licht bei abendlichem Sonnenschein und quakenden Fröschen: ganz vorne am Bug. Mein Buch habe ich gar nicht erst aufgeschlagen. Stundenlang genieße ich Fahrtwind, Landschaft und das hypnotisierende Schnurren des Diesel-Motors. Ist man am Steuer, muss man sich konzentrieren, denn das Ruder muss immer in der Mitte gehalten werden, sonst driftet das Boot schnell ab.
Wir erreichen das pittoreske La Gacilly in der Abenddämmerung. Am kleinen Anleger kann es schon mal eng werden, wenn viele mit dem Boot anreisen. Doch wir haben Glück und ergattern einen Liegeplatz. Schnell noch eine heiße Dusche, denn warmes Wasser ist jetzt noch genügend da – der Motor hat es den ganzen Tag über angewärmt. Als ich an Deck komme, geht gerade ein einheimischer Helfer über Bord oder besser gesagt, er fällt vom Steg beim Versuch, unser Boot an der Leine in die Lücke zu ziehen. Großes Gelächter. Tausend Entschuldigungen.
Der nette Monsieur nimmt es gelassen: „Ich wohne um die Ecke und ziehe mich schnell um!“So sind sie, die Bretonen. Entspannt, hilfsbereit und sehr freundlich. Auf unserer Fahrt wird viel gewunken. Zuweilen plaudert man mit den Anglern, Spaziergängern oder Fahrradfahrern auf dem Treidelpfad. Auf dem Fluss hat man trotzdem das Gefühl, die Zivilisation sei weit weg. Dabei passieren wir viele Dörfer.
Nun also La Gacilly. Das 2400-Einwohner-Dorf ist der Geburtsort von Yves Rocher, der dort in den 1950er-Jahren seine Naturkosmetik „erfand“und bis heute seine Cremes in alle Welt exportiert. Beim Schlendern durch den sehr kleinen Ort spürt man Yves Rochers Geist quasi an jeder Ecke. Der Unternehmer war nicht nur jahrzehntelang
Bürgermeister seines Heimatorts, sondern auch dessen Retter. Er hat das damals bitterarme La Gacilly in den 1960er-Jahren wieder zum Leben erweckt, indem er im Herzen des bretonischen Hinterlandes anfing, seine Produkte zu mischen und im großen Stil zu vermarkten. Mit einer Hämorrhoiden-Salbe fing alles an. Eine Geschichte, die gerne und immer wieder erzählt wird. Die für seine Kosmetik benötigten Pflanzen – Calendula, Kamille, Kornblume – ließ Rocher rund ums Dorf anbauen. Mit den Feldern wuchs das Geschäft. Später, als Bürgermeister, lockte er Kunsthandwerker mit günstigen Ateliers. Heute gibt es rund 50 kleine Werkstätten im Dorf. Sie bieten Keramik, Schmuck oder Malerei an.
Immer noch arbeiten rund 1500 Menschen an drei Standorten in und um La Gacilly für den Konzern, der aktuell 15.000 Menschen weltweit beschäftigt. Der Ort hat seinem „Erlöser“sogar ein Museum („Haus der Marke“) gewidmet.
Es ist zu einer Art Kultstätte für den 2009 verstorbenen Yves Rocher geworden und zeigt seit 2017 eine beeindruckende Multimedia-Installation in vier Räumen über die Entstehung des Kosmetik-Konzerns. Man sollte diese museal aufbereitete Marketing-Show allerdings mit der nötigen kritischen Distanz besuchen. Sehenswert ist sie allemal. Und im Museumsrestaurant „Végétarium“isst man vorzüglich.
Viel interessanter ist allerdings das Outdoor-Foto-Festival, das die Yves-Rocher-Stiftung zusammen mit weiteren Sponsoren seit 2002 jedes Jahr in La Gacilly veranstaltet. Es gilt als das größte seiner Art in Frankreich.
Von Juni bis September werden Hunderte großformatige Fotografien teils an den Granit-Häuserfassaden des idyllischen Ortes ausgestellt. In diesem Jahr unter dem Motto „Visions of the East“mit vielen bewegenden, verstörenden Fotografien vor allem von verhüllten Frauen in der islamischen Welt (www.festivalphoto-lagacilly.com).
Man schläft eigentlich super auf so einem Hausboot. Ja, es ist eng. Aber zur Entschleunigung braucht
Kilometer lang ist das Wasserwege-Netz im Hinterland der Bretagne.
es die Beschränkung auf das Wesentliche. Das Bad ist nur eineinhalb Quadratmeter groß. Der Stauraum ist bescheiden. Die Luxus-Ausführung des Le-Boat-Hausboots bietet acht Schlafplätze in vier Kabinen mit jeweils einer Nasszelle.
Wenn es draußen nass ist, sitzt man am großen Tisch in der Bordküche – mit vier Gasfeldern, Ofen, Mikrowelle. Alle modernen Annehmlichkeiten also. Bei schönem Wetter lässt es sich wunderbar an Deck grillen. Dort oben schmeckt am Abend auch der Kir Breton aus herbem, eiskaltem Cidre mit einem Schuss Cassis am besten. Und ja, man spült von Hand. Aber man hat ja auch die Zeit dazu.
Als wir nach der vierten Nacht endgültig festmachen und das Boot räumen, schleicht sich Wehmut ein. Es war so schön. Und ruhig. Und friedlich. In diesen Zeiten sind solche Momente unbezahlbar.