Saarbruecker Zeitung

Blutiges Patt zwischen Kiew und Moskau

Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert jetzt schon ein halbes Jahr. Die Russen können einige Erfolge aufweisen – mussten aber auch schon schwer einstecken. Das Ganze könnte sich noch Jahre hinziehen.

- VON CARSTEN HOFFMANN, ULF MAUDER UND ANDREAS STEIN

BERLIN/MOSKAU/KIEW (dpa) Nach sechs Monaten Krieg gegen die Ukraine kommen die russischen Truppen nur im Kriechgang voran – und müssen auch spektakulä­re Gegenschlä­ge hinnehmen. So kann sich Präsident Wladimir Putin den Kriegsverl­auf nicht gedacht haben, als seine Panzertrup­pen am 24. Februar die Grenze überschrit­ten. Binnen Stunden änderte sich das sicherheit­spolitisch­e Gefüge in Europa: Die Nato aktivierte noch am selben Tag Verteidigu­ngspläne für Osteuropa, EU-Sanktionsp­akete wurden beschlosse­n und dann auch eine „Zeitenwend­e“mit 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr.

Regierunge­n und Militärexp­erten, die der Ukraine zu Beginn eine Niederlage binnen weniger Wochen vorhersagt­en, lagen gewaltig daneben. Inzwischen gleicht die Situation einem blutigen Patt. Daraus könnte – so sagen es Diplomaten – ein Krieg werden, der noch Jahre dauert, mit weiteren schweren Grausamkei­ten und schlimmen Verbrechen an der

Zivilbevöl­kerung.

Die russischen Einheiten kommen kaum voran. Sie verhindert­en bei Vorstößen in ukrainisch kontrollie­rte Gebiete nicht, dass sich die Verteidige­r neu gruppieren, wie Militärexp­erten des Institute for the Study of the War aus den USA bilanziere­n. Und: „Die russischen Kräfte werden wahrschein­lich weiterhin nicht genug Ressourcen für einzelne Offensiven bereitstel­len können, wie sie für bedeutsame Gebietsgew­inne nötig sind, aus denen ein operativer Erfolg wird.“

Die vom Westen mit Milliarden und schweren Waffen unterstütz­te Führung in Kiew stellt der Bevölkerun­g eine Vertreibun­g der russischen Angreifer in Aussicht. „Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt. Wir haben die Besatzer von unserer Schlangeni­nsel vertrieben. Sie spüren bereits, dass es Zeit ist, aus Cherson und überhaupt aus dem Süden unseres Staates zu verschwind­en“, versprach Präsident Selenskyj Mitte August. „Es wird die Zeit kommen, dass sie aus dem Gebiet Charkiw verschwind­en, aus dem Donbass, von der Krim ...“

Trotzdem musste auch Selenskyj zugeben, dass inzwischen rund 20 Prozent des Staatsgebi­ets – die Krim eingeschlo­ssen – nicht mehr unter ukrainisch­er Kontrolle stehen. Aus dem Kreml kommen unveränder­t Behauptung­en, alles laufe nach Plan. Die Ziele der „militärisc­hen Spezialope­ration“, wie der Krieg in Russland offiziell nur heißt, würden in vollem Umfang erreicht. „Ohne Zweifel.“Was genau die Ziele sein sollen, ist aber auch vielen Russen nicht mehr klar. Die Sanktionen setzen ihrer Wirtschaft schwer zu. Die Nato, die zurückgedr­ängt werden sollte, ist stattdesse­n auf dem Vormarsch: Finnland und Schweden kommen nun auch in die Militärall­ianz.

Die große Mehrheit der Russen blendet den Krieg aus. Putin spricht als Oberbefehl­shaber immer wieder vom Ziel der „Befreiung“des Donbass. Die Bilder von Tod und Zerstörung, die auch viele Russen trotz gesperrter Internetse­iten und Zensur in den Staatsmedi­en kennen, lassen aber am Sinn der Invasion zweifeln. Zum Donbass gehören das Gebiet

Luhansk, das die Ukraine nicht mehr kontrollie­rt, und die Region Donezk, wo Moskau seit Wochen ohne merklichen Fortschrit­t nach Einschätzu­ng unabhängig­er russischer Experten bisher etwas über 60 Prozent des Gebiets erobert hat.

Was aber mit den eroberten Teilen der Gebiete Cherson, Charkiw und Saporischs­chja geschehen soll, dazu gibt es keine klaren Ansagen des Kremls. Diskutiert werden immer wieder „Volksabsti­mmungen“über einen Beitritt zu Russland, ohne dass es ein Datum gibt. Die ganze „Opera

tion“liegt nach einer Analyse des Experten Andrej Perzew deutlich hinter Zeitplan. Moskau schätze die Lage immer wieder falsch ein. „Im Kreml hoffen sie, dass die russischen Streitkräf­te bis Dezember/Januar das Donezker Gebiet doch noch komplett einnehmen, ohne dabei die Kontrolle über die schon okkupierte­n Territorie­n zu verlieren“, schrieb Perzew für das Internetpo­rtal Meduza.

Russische Abgeordnet­e und Militärs betonen zwar, dass der gesamte Süden abgetrennt werden solle – also auch die Hafenstadt Odessa. Der Kreml bestätigt das aber nicht. Durch einen russischen Korridor bis zur ExSowjetre­publik Moldau verlöre die Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer und würde zum Binnenland. Aber selbst vielen Russen ist klar, dass nichts läuft, wie es sollte. Zwar plakatiere­n Städte und Regionen Aufrufe, sich sogenannte­n Freiwillig­enbataillo­nen anzuschlie­ßen. Aber der personelle Nachschub für die Front kommt nicht zusammen, wie selbst russische Zeitungen offen schreiben. Zudem wehren sich Angehörige der Sicherheit­sorgane bisweilen auch vor Gericht dagegen, in den Krieg zu ziehen.

Dabei locken für russische Verhältnis­se vergleichs­weise hohe Monatseink­ommen von 100 000 Rubel (rund 1700 Euro) und mehr. Auch in

Gefängniss­en wird rekrutiert – mit dem Verspreche­n eines späteren Lebens in Freiheit. Immer wieder gibt es Berichte, wonach etwa der von den USA zur Fahndung ausgeschri­ebene und auch von der EU mit Sanktionen belegte Geschäftsm­ann Jewgeni Prigoschin in den Straflager­n auf Suche nach Kämpfern geht. Der Mann mit gutem Draht zu Putin gilt

als Finanzier der internatio­nal tätigen Söldnergru­ppe „Wagner“, die für viele Kriegsverb­rechen verantwort­lich gemacht wird.

Nach einem halben Jahr sieht auch das russische Internetpo­rtal Meduza in einer großen Analyse eine Pattsituat­ion. „Die Kampfhandl­ungen sind in der Sackgasse, aber ein Einfrieren des Konflikts ist weder für Moskau

noch für Kiew von Vorteil.“Niemand wolle nachgeben und Verlierer sein. „Ihre politische­n Ziele bringen beide Seiten dazu, ihren Einsatz zu erhöhen für einen noch größer angelegten Krieg.“

Putin hatte zuletzt auch gesagt, dass Russland noch nicht einmal richtig losgelegt habe. Die große Mehrheit der Russen ist überzeugt, dass er alles tut, um eine Niederlage zu verhindern. Durch eine Generalmob­ilmachung könnte der Kremlchef aus der „Militärope­ration“einen auch für Russland richtigen Krieg machen, den er dann auch so nennen müsste. Die Sorge, er könne eine Eskalation mit den Nato-Staaten im Baltikum suchen, hat sich bisher aber nicht bestätigt.

Das Bündnis sei kaltstartf­ähig und verteidigu­ngsbereit, sagte kürzlich der deutsche Generalleu­tnant Jürgen-Joachim von Sandrart, Kommandier­ender General der NatoBodent­ruppen in Nordosteur­opa und damit auch zuständig für die Grenzgebie­te zu Russland, Belarus und der Ukraine. „Die Prozesse sind festgelegt. Wenn es zu einem Angriff kommt, wird sofort militärisc­h reagiert“, erläuterte Sandrart in einem Videointer­view der Bundeswehr. „Und jeder Angriff wird sofort militärisc­h beantworte­t und auch zurückgesc­hlagen.“

 ?? FOTO: MORENATTI/DPA ?? Butscha ist zum Symbol für die Grausamkei­t des russischen Angriffskr­iegs in der Ukraine geworden. Hier umarmt Ivan Drahun seinen Sohn Wowa (10), während zwei Männer den Sarg mit dem Leichnam seiner Mutter Maryna zu Grabe tragen. Sie war eines von mehr als 400 zivilen Opfern in dem Kiewer Vorort.
FOTO: MORENATTI/DPA Butscha ist zum Symbol für die Grausamkei­t des russischen Angriffskr­iegs in der Ukraine geworden. Hier umarmt Ivan Drahun seinen Sohn Wowa (10), während zwei Männer den Sarg mit dem Leichnam seiner Mutter Maryna zu Grabe tragen. Sie war eines von mehr als 400 zivilen Opfern in dem Kiewer Vorort.
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FOTO: UKRAINIAN PRESIDENTI­AL PRESS OFF/DPA Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine
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FOTO: NIKOLSKYI/ SPUTNIK/DPA Wladimir Putin, Präsident von Russland

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