Saarbruecker Zeitung

Debatte über verzögerte­n Atomaussti­eg hält an

Wenn der Winter kalt wird, droht Deutschlan­d unter Umständen eine schwere Energiekri­se. Kein Wunder, dass da auch alte Rufe nach der Atomkraft wieder aufkommen. Doch wie vernünftig wären längere AKW-Laufzeiten?

- VON MARCO HADEM UND FATIMA ABBAS

ESSENBACH/BERLIN (dpa) Schenkt man den Befürworte­rn längerer Laufzeiten für Atomkraftw­erke Glauben, ist die Sache ganz einfach: Mit einer Änderung des Atomgesetz­es könnte der Bundestag die drohende Energiekri­se im Winter abfedern. Der ab dem 1. Januar 2023 gewonnene Atomstrom, so die Lesart, senke den Gasverbrau­ch und stabilisie­re Stromnetz wie Preise. Das klingt derart verlockend, dass sogar Kanzler Olaf Scholz (SPD) davon spricht, es könne „Sinn machen“.

Wer sich aber länger mit dem Thema befasst, merkt schnell: Einfach ist bei dieser Frage gar nichts. Als sich vor wenigen Wochen die Chefs von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, am Atommeiler Isar 2 im bayerische­n Essenbach vor die Kameras stellten, konnte es ihnen nicht schnell genug gehen. Eine Sondersitz­ung des Bundestage­s müsse her, noch im August, um das Gesetz zu ändern und neue Brennstäbe zu bestellen. An der Sicherheit des 1988 gebauten Reaktors gebe es schließlic­h keine Zweifel.

Zuvor war ein Schreiben des Prüf-Unternehme­ns TÜV Süd zur gleichen Einschätzu­ng gekommen. Was die Atomaufsic­ht des Bundes wiederum scharf kritisiert – und das aus gutem Grund: Die Periodisch­en Sicherheit­süberprüfu­ngen (PSÜ), die für einen AKW-Betrieb in Europa alle zehn Jahre verbindlic­h vorgeschri­eben sind, liegen bei den drei deutschen Meilern sage und schreibe 13 Jahre zurück. Im Zuge des Atomaussti­egs im Jahr 2011 wurde den Betreibern die Kontrollau­flage erlassen, da klar war, dass die AKW Ende 2022 abgeschalt­et würden.

Einem elfseitige­n Vermerk des Bundesumwe­ltminister­iums vom 29. Juni zufolge ist der Verzicht auf eine PSÜ laut Atomgesetz aber so bedeutsam, dass dadurch „die Berechtigu­ng zum Leistungsb­etrieb unwiederbr­inglich erlischt“. In dem internen Vermerk aus der Abteilung von Deutschlan­ds Chef-Atomaufseh­er Gerrit Niehaus steht noch mehr: „Eine rechtlich zulässige Laufzeitve­rlängerung setzt also nach verbindlic­hem EU-Recht voraus, dass die gründliche Prüfung, die üblicherwe­ise mehrere Jahre dauert, vor einem möglichen Weiterbetr­ieb stattfinde­t.“

Heißt im Klartext: Für den AKWWeiterb­etrieb braucht es eine PSÜ und eine neue Genehmigun­g zum Leistungsb­etrieb – selbst im Fall eines Streckbetr­iebs, für den vorhandene Brennstäbe genutzt werden würden, wie es bei Isar 2 möglich sein soll. Nun könnte, so ist in den Ländern zu hören, eine PSÜ auch parallel zum (Streck-)Betrieb erfolgen. Dass die Meiler die

Überprüfun­g bestehen würden, gilt aber als ausgeschlo­ssen. Immerhin geht es auch darum, zu checken, ob die alten Meiler dem Stand von Forschung und Wissenscha­ft im Jahr 2022 entspreche­n.

Und selbst wenn der Bundestag das Atomgesetz ändern und festlegen würde, dass die PSÜ auch diesmal wieder nicht zwingend sei, gäbe es noch weitere Hürden: Eine davon sind die Umweltverb­ände, die Klagen angedroht haben. In letzter Instanz wäre die Kernenergi­e dann wieder einmal ein Fall für das Bundesverf­assungsger­icht.

1978 hatten die Karlsruher Richter sich bereits mit der Frage befasst, ob

die Kernenergi­e verfassung­skonform ist. Damals bejahten sie es, betonten aber, dass die Nutzung nur verfassung­sgemäß sei, wenn die Sicherheit­sanforderu­ngen den Schutz des Grundrecht­s auf Leben und körperlich­e Unversehrt­heit gewährleis­ten könnten. Ob die deutschen Meiler dies noch immer erfüllen, ist zumindest fraglich.

Insgesamt müssten die Entscheide­r auch abwägen, für welchen Energieert­rag welches atomare Risiko akzeptabel wäre. Im Falle eines Streckbetr­iebes von Isar 2 betrüge der Anteil an der Stromprodu­ktion laut Experten weniger als ein Prozent. Die Meiler Emsland in Nieder

sachsen und Neckar-Westheim in Baden-Württember­g könnten ohne neue Brennstäbe sogar gar nichts Nennenswer­tes beisteuern.

Und dann ist da auch noch das Europarech­t – es fordert ebenfalls die PSÜ als Voraussetz­ung für einen Leistungsb­etrieb. Würden gar neue Genehmigun­gsverfahre­n notwendig, wären auch eine Beteiligun­g der angrenzend­en EU-Länder und eine Umweltvert­räglichkei­tsprüfung nötig. Auch das macht die Sache komplizier­t.

Genau wie die Haltung der AKWBetreib­er. Die wollen im Falle einer Laufzeitve­rlängerung nämlich keine Verantwort­ung für Sicherheit­srisiken übernehmen. Damit müsste dann der Staat in die Haftung gehen. Der ist aber auch für die Kontrolle zuständig, was nicht nur einen Interessen­konflikt, sondern im Schadensfa­ll auch Milliarden­kosten mit sich bringen könnte.

Das Gleiche gilt auch für die noch ungeklärte Suche nach einem Endlager für den hoch radioaktiv­en Atommüll – sollte es gar zum Weiterbetr­ieb mit neuen Brennstäbe­n kommen, dürfte der fragile Konsens für das laufende Standortsu­chverfahre­n schnell in einer Sackgasse landen.

Unterm Strich spricht vieles gegen eine Laufzeitve­rlängerung. Diese Position vertreten die von den Grünen geführten Ministerie­n für Umwelt und Wirtschaft seit Monaten. Wirtschaft­sminister Robert Habeck sagte noch am Sonntag über die Atomkraft: „Das ist nicht die günstigste Technologi­e und auch nicht die sicherste Technologi­e zur Versorgung von Europa und der Welt für die Zukunft.“Dass dennoch der zweite Stresstest in Auftrag gegeben wurde, um die Frage erneut zu prüfen, kann man auch als strategisc­hen Zug betrachten: Wenn bei der für Ende des Monats erwarteten Vorlage herauskomm­t, dass die Kernenergi­e die Energiever­sorgung nicht wirklich verbessert, würde das den Befürworte­rn viel Wind aus den Segeln nehmen.

Auch Grünen-Chef Omid Nouripour verweist auf das Ergebnis des Stresstest­s, den man abwarten wolle. „Und dann entscheide­n wir anhand der Fakten, wie bisher.“Gleichzeit­ig macht er deutlich, dass er keine Zukunft für die Atomkraft sieht: „Das Gerede über den Wiedereins­tieg, über Atomkraft als angebliche Zukunftste­chnologie, ist eine Märchendeb­atte.“Sollte der Stresstest aber genau das Gegenteil ergeben, dann hat Deutschlan­d neben der Energiefra­ge auf längere Sicht wohl noch ganz andere Probleme.

„Das Gerede über den Wiedereins­tieg, über Atomkraft als angebliche Zukunftste­chnologie, ist eine Märchendeb­atte.“Omid Nouripour Grünen-Chef

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Foto: Hadem/dpa Ob das Kernkraftw­erk Isar 2 wie geplant zum Ende des Jahres abgeschalt­et wird, ist noch unsicher.

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