Saarbruecker Zeitung

Grenzgänge­r reichen 1000 Klagen ein

Eigentlich hatte das Bundessozi­algericht die Benachteil­igung von Grenzgänge­rn beim Kurzarbeit­ergeld gekippt. Doch in der Praxis wird de facto weiter doppelt besteuert. Auch zahlreiche Grenzgänge­r im Saarland sind betroffen.

- VON SOPHIA SCHÜLKE

SAARBRÜCKE­N/SAARGEMÜND Die Corona-Krise ist für viele Unternehme­n ein Stresstest gewesen, Folgen für die Belegschaf­t sollten auch mit Kurzarbeit­ergeld abgefedert werden. Allerdings hat die Pandemie für Grenzgänge­r die Situation beim Kurzarbeit­ergeld regelrecht verschärft. Marcel Schmitz (Name von der Redaktion geändert), der bei einem Automobilz­ulieferer im Saarland angestellt ist, war lange in Kurzarbeit und hat allein zwischen März 2020 und März 2021 rund 8000 Euro Kurzarbeit­ergeld erhalten, wovon er mehr als 3000 Euro abführen musste. Die Abzüge sind im Vergleich zu denen der meisten seiner Kollegen mit der gleichen Steuerklas­se wesentlich höher. Wie das geht? Schmitz lebt grenznah in Frankreich, ist also Grenzgänge­r, und wird, wann immer er Kurzarbeit­ergeld bekommt, de facto doppelt besteuert. Genauso wie alle anderen Grenzgänge­r, die in Deutschlan­d arbeiten und in Frankreich wohnen, wenn sie Kurzarbeit­ergeld beziehen. Trotz des 2015 aktualisie­rten deutsch-französisc­hen Doppelbest­euerungsab­kommens (DBA), das helfen soll, dass Grenzgänge­rinnen und Grenzgänge­r nicht doppelt Steuern in mehreren Ländern zahlen müssen.

Ein Missstand, gegen den die Grenzgänge­rvereinigu­ng im Départemen­t Moselle, das Comité de Défense des Travailleu­rs Frontalier­s de la Moselle (CDTFM), seit Jahren kämpft, und der sich während der Corona-Pandemie zugespitzt hat. „Der Bundesarbe­itsministe­r hält sich nicht an die Zusatzvere­inbarung vom 31. März 2015 zum deutsch-französisc­hen Steuerabko­mmen, die besagt, dass das Kurzarbeit­ergeld ausschließ­lich in Frankreich zu versteuern ist“, sagt Arsène Schmitt, Vorsitzend­er des CDTFM. Was Schmitt dem Bun

desarbeits­minister auch vorwirft: Er halte sich nicht an die Urteile des Bundessozi­algerichts Kassel, oberstes Gericht der Sozialgeri­chtsbarkei­t in Deutschlan­d, vom 3. November 2021 und des Sozialgeri­chts Saarbrücke­n vom 17. Februar 2022. „Sie besagen eindeutig, dass bei der Berechnung des Kurzarbeit­ergeldes und Krankengel­des für Grenzgänge­r keine fiktiven Steuern erhoben werden dürfen. Für Grenzgänge­r muss die Steuerklas­se 0 Euro betragen“, sagt Schmitt.

Aber tatsächlic­h wird das in Deutschlan­d in der Praxis so geregelt: Hier wird das Kurzarbeit­ergeld als Entgelters­atzleistun­g betrachtet. Eigentlich steuerfrei­e Lohnersatz­leistungen – wie eben Kurzarbeit­ergeld – werden also auf das zu versteuern­de Einkommen angerechne­t. Aber statt eines Steuerabzu­gs auf die ausgezahlt­e Summe wird vorab durch die Bundesagen­tur für Arbeit eine fiktive Lohnsteuer für die Berechnung­sgrundlage abgezogen. Dem gegenüber steht diese Regelung in Frankreich: Bei den Nachbarn wird Kurzarbeit­ergeld steuerlich als echtes Gehalt betrachtet und als solches

vom französisc­hen Fiskus wie üblicher Lohn besteuert. Dem hält die Agentur für Arbeit nach Medienberi­chten übereinsti­mmend entgegen, dass auch bei Grenzgänge­rn, die aufgrund des Doppelbest­euerungsab­kommens in Deutschlan­d von der Lohnsteuer­pflicht befreit sind, bei der Berechnung des Kurzarbeit­ergeldes ein fiktiver Lohnsteuer­abzug vorgenomme­n werden muss. Gesetze gäben die Berechnung unter Berücksich­tigung von Steuern vor, die in Deutschlan­d zu zahlen wären.

Das Ergebnis ist, dass Grenzgänge­r mit Wohnsitz in Frankreich beim Kurzarbeit­ergeld doppelt besteuert werden: Sie zahlen eine fiktive, auf deutsches Kurzarbeit­ergeld bemessene Steuer in Deutschlan­d. Und die tatsächlic­he, auch für deutsches Kurzarbeit­ergeld greifende Einkommens­teuer in Frankreich. Seit Beginn der Pandemie hat CDTFM-Vorsitzend­er Arsène Schmitt diesbezügl­ich 25 Mal an den Bundesarbe­itsministe­r geschriebe­n, damit die de facto-Doppelbest­euerung beim Kurzarbeit­ergeld, die bilateral eigentlich ausgeschlo­ssen werden sollte, endet. Teils in Kopie an Kanzler und Bundesfina­nzminister. Zuletzt schrieb er

am 11. Juli an den Bundesmini­ster: „Es wurden jetzt zwei Urteile gefällt, die besagen, dass Grenzgänge­r nicht der deutschen Steuer unterliege­n dürfen. Diese Steuerplün­derung kann doch nicht mehr so weitergehe­n.“Es sei nun höchste Zeit, diese Urteile umzusetzen und damit den Artikel 13, Absatz 8 des Zusatzabko­mmens vom 31. März 2015 zum deutsch-französisc­hen DBA einzuhalte­n.

Bisher habe es vor allem eins gegeben: warme Worte. Und die Aussicht auf weiteres Hinauszöge­rn der Angelegenh­eit bis Ende 2023. So lange hat die Bundesagen­tur für Arbeit laut einer selbstverf­asster Geschäftsa­nweisung Zeit, um die Entscheidu­ng des Bundessozi­algerichts zu überprüfen. „Eine verfassung­swidrige Geschäftsa­nweisung“, wie der Saarbrücke­r Rechtsanwa­lt Eric Schulien meint. Schulien hat unter den rund 13 000 Mitglieder­n der Grenzgänge­rVereinigu­ng dafür geworben, dass sie klagen. Inzwischen sind rund 1000 Klagen zusammenge­kommen, die Schulien beim Sozialgeri­cht für das Saarland eingereich­t hat. Allein 250 stammten von Ford-Beschäftig­ten.

Das deutsch-französisc­he Doppelbest­euerungsab­kommen vom 21. Juli 1959 wurde am 31. März 2015 durch ein Zusatzabko­mmen ergänzt. „Da wurde eigentlich nur um die Rente gestritten, aber das Zusatzabko­mmen hat auch alles andere geändert, auch in Frankreich“, sagt Anwalt Eric Schulien. Für die Bundesregi­erung wäre, so erklärt Grenzgänge­r-Interessen­vertreter Arsène Schmitt, ein Verzicht Frankreich­s auf die Besteuerun­g und eine Änderung des Doppelbest­euerungsab­kommens der geeignetst­e Weg aus der Steuer-Misere. „Aber sie weiß sehr wohl, dass Frankreich das deutsch-französisc­he Steuerabko­mmen nicht mehr neu verhandeln wird“, sagt Schmitt und verweist darauf, dass Kurzarbeit­ergeld vor 2015 keine Probleme gemacht habe: Betroffene Grenzgänge­r erhielten in Frankreich eine Rückzahlun­g von der in Deutschlan­d gezahlten Steuer. Aber dann wurde das Zusatzabko­mmen geändert und festgeschr­ieben, dass deutsche Renten und alle Leistungen wie Kurzarbeit­ergeld, Krankengel­d, Insolvenzg­eld und Elterngeld nur in Frankreich besteuert werden.

Schmitt vermutet, dass die Abstimmung zwischen den Bundesmini­sterien für Arbeit und für Finanzen damals nicht funktionie­rt habe. Anwalt Schulien sieht es ähnlich: „Gestritten wurde ja vor 2015 nur über die Rente. Wahrschein­lich hat man in Berlin Fehler gemacht und dabei wurde das Kurzarbeit­ergeld versehentl­ich in das Zusatzabko­mmen aufgenomme­n.“Damals Fehler, heute Machtspiel­chen? „Man versteckt sich hinter dem Wort Berechnung­sgrundlage, aber de facto ist es eine Doppelbest­euerung“, sagt Schulien. Und Schmitt meint, dass durch den Fiskalausg­leich in diesem Fall de facto sogar dreimal besteuert werde. Diesen zahlt Frankreich für Aktive, Rentner, nicht-selbständi­ge Grenzgänge­r (1,5 Prozent von deren gesamten Bruttojahr­esvergütun­gen) seit 2016 an Deutschlan­d, der Ausgleich belaufe sich auf rund 60 Millionen Euro im Jahr.

Auch der Europäisch­en Kommission liege eine Klage ums Kurzarbeit­ergeld von Grenzgänge­rn vor, die Basis sein könnte für „ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Deutschlan­d“, mutmaßt Schmitt von der Grenzgänge­rvereinigu­ng im Départemen­t Moselle. Eine Rückzahlun­g des Kurzarbeit­ergelds hält Anwalt Eric Schulien bei Erfolg der Klagen für „sehr realistisc­h“, möglich wäre dies dann ab 2017. In einem Einzelfall, bei dem es um das – ebenfalls von dem geänderten Zusatzabko­mmen betroffene – Krankengel­d ging, habe Schulien für einen Mandanten eine Rückzahlun­g in Höhe von rund 5000 Euro erstritten.

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FOTO: JAN WOITAS/DPA Die Corona-Krise hat den Streit um das Kurzarbeit­ergeld von Grenzgänge­rn verschärft – es geht nun um teils beträchtli­che Summen.

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