Grenzgänger reichen 1000 Klagen ein
Eigentlich hatte das Bundessozialgericht die Benachteiligung von Grenzgängern beim Kurzarbeitergeld gekippt. Doch in der Praxis wird de facto weiter doppelt besteuert. Auch zahlreiche Grenzgänger im Saarland sind betroffen.
SAARBRÜCKEN/SAARGEMÜND Die Corona-Krise ist für viele Unternehmen ein Stresstest gewesen, Folgen für die Belegschaft sollten auch mit Kurzarbeitergeld abgefedert werden. Allerdings hat die Pandemie für Grenzgänger die Situation beim Kurzarbeitergeld regelrecht verschärft. Marcel Schmitz (Name von der Redaktion geändert), der bei einem Automobilzulieferer im Saarland angestellt ist, war lange in Kurzarbeit und hat allein zwischen März 2020 und März 2021 rund 8000 Euro Kurzarbeitergeld erhalten, wovon er mehr als 3000 Euro abführen musste. Die Abzüge sind im Vergleich zu denen der meisten seiner Kollegen mit der gleichen Steuerklasse wesentlich höher. Wie das geht? Schmitz lebt grenznah in Frankreich, ist also Grenzgänger, und wird, wann immer er Kurzarbeitergeld bekommt, de facto doppelt besteuert. Genauso wie alle anderen Grenzgänger, die in Deutschland arbeiten und in Frankreich wohnen, wenn sie Kurzarbeitergeld beziehen. Trotz des 2015 aktualisierten deutsch-französischen Doppelbesteuerungsabkommens (DBA), das helfen soll, dass Grenzgängerinnen und Grenzgänger nicht doppelt Steuern in mehreren Ländern zahlen müssen.
Ein Missstand, gegen den die Grenzgängervereinigung im Département Moselle, das Comité de Défense des Travailleurs Frontaliers de la Moselle (CDTFM), seit Jahren kämpft, und der sich während der Corona-Pandemie zugespitzt hat. „Der Bundesarbeitsminister hält sich nicht an die Zusatzvereinbarung vom 31. März 2015 zum deutsch-französischen Steuerabkommen, die besagt, dass das Kurzarbeitergeld ausschließlich in Frankreich zu versteuern ist“, sagt Arsène Schmitt, Vorsitzender des CDTFM. Was Schmitt dem Bun
desarbeitsminister auch vorwirft: Er halte sich nicht an die Urteile des Bundessozialgerichts Kassel, oberstes Gericht der Sozialgerichtsbarkeit in Deutschland, vom 3. November 2021 und des Sozialgerichts Saarbrücken vom 17. Februar 2022. „Sie besagen eindeutig, dass bei der Berechnung des Kurzarbeitergeldes und Krankengeldes für Grenzgänger keine fiktiven Steuern erhoben werden dürfen. Für Grenzgänger muss die Steuerklasse 0 Euro betragen“, sagt Schmitt.
Aber tatsächlich wird das in Deutschland in der Praxis so geregelt: Hier wird das Kurzarbeitergeld als Entgeltersatzleistung betrachtet. Eigentlich steuerfreie Lohnersatzleistungen – wie eben Kurzarbeitergeld – werden also auf das zu versteuernde Einkommen angerechnet. Aber statt eines Steuerabzugs auf die ausgezahlte Summe wird vorab durch die Bundesagentur für Arbeit eine fiktive Lohnsteuer für die Berechnungsgrundlage abgezogen. Dem gegenüber steht diese Regelung in Frankreich: Bei den Nachbarn wird Kurzarbeitergeld steuerlich als echtes Gehalt betrachtet und als solches
vom französischen Fiskus wie üblicher Lohn besteuert. Dem hält die Agentur für Arbeit nach Medienberichten übereinstimmend entgegen, dass auch bei Grenzgängern, die aufgrund des Doppelbesteuerungsabkommens in Deutschland von der Lohnsteuerpflicht befreit sind, bei der Berechnung des Kurzarbeitergeldes ein fiktiver Lohnsteuerabzug vorgenommen werden muss. Gesetze gäben die Berechnung unter Berücksichtigung von Steuern vor, die in Deutschland zu zahlen wären.
Das Ergebnis ist, dass Grenzgänger mit Wohnsitz in Frankreich beim Kurzarbeitergeld doppelt besteuert werden: Sie zahlen eine fiktive, auf deutsches Kurzarbeitergeld bemessene Steuer in Deutschland. Und die tatsächliche, auch für deutsches Kurzarbeitergeld greifende Einkommensteuer in Frankreich. Seit Beginn der Pandemie hat CDTFM-Vorsitzender Arsène Schmitt diesbezüglich 25 Mal an den Bundesarbeitsminister geschrieben, damit die de facto-Doppelbesteuerung beim Kurzarbeitergeld, die bilateral eigentlich ausgeschlossen werden sollte, endet. Teils in Kopie an Kanzler und Bundesfinanzminister. Zuletzt schrieb er
am 11. Juli an den Bundesminister: „Es wurden jetzt zwei Urteile gefällt, die besagen, dass Grenzgänger nicht der deutschen Steuer unterliegen dürfen. Diese Steuerplünderung kann doch nicht mehr so weitergehen.“Es sei nun höchste Zeit, diese Urteile umzusetzen und damit den Artikel 13, Absatz 8 des Zusatzabkommens vom 31. März 2015 zum deutsch-französischen DBA einzuhalten.
Bisher habe es vor allem eins gegeben: warme Worte. Und die Aussicht auf weiteres Hinauszögern der Angelegenheit bis Ende 2023. So lange hat die Bundesagentur für Arbeit laut einer selbstverfasster Geschäftsanweisung Zeit, um die Entscheidung des Bundessozialgerichts zu überprüfen. „Eine verfassungswidrige Geschäftsanweisung“, wie der Saarbrücker Rechtsanwalt Eric Schulien meint. Schulien hat unter den rund 13 000 Mitgliedern der GrenzgängerVereinigung dafür geworben, dass sie klagen. Inzwischen sind rund 1000 Klagen zusammengekommen, die Schulien beim Sozialgericht für das Saarland eingereicht hat. Allein 250 stammten von Ford-Beschäftigten.
Das deutsch-französische Doppelbesteuerungsabkommen vom 21. Juli 1959 wurde am 31. März 2015 durch ein Zusatzabkommen ergänzt. „Da wurde eigentlich nur um die Rente gestritten, aber das Zusatzabkommen hat auch alles andere geändert, auch in Frankreich“, sagt Anwalt Eric Schulien. Für die Bundesregierung wäre, so erklärt Grenzgänger-Interessenvertreter Arsène Schmitt, ein Verzicht Frankreichs auf die Besteuerung und eine Änderung des Doppelbesteuerungsabkommens der geeignetste Weg aus der Steuer-Misere. „Aber sie weiß sehr wohl, dass Frankreich das deutsch-französische Steuerabkommen nicht mehr neu verhandeln wird“, sagt Schmitt und verweist darauf, dass Kurzarbeitergeld vor 2015 keine Probleme gemacht habe: Betroffene Grenzgänger erhielten in Frankreich eine Rückzahlung von der in Deutschland gezahlten Steuer. Aber dann wurde das Zusatzabkommen geändert und festgeschrieben, dass deutsche Renten und alle Leistungen wie Kurzarbeitergeld, Krankengeld, Insolvenzgeld und Elterngeld nur in Frankreich besteuert werden.
Schmitt vermutet, dass die Abstimmung zwischen den Bundesministerien für Arbeit und für Finanzen damals nicht funktioniert habe. Anwalt Schulien sieht es ähnlich: „Gestritten wurde ja vor 2015 nur über die Rente. Wahrscheinlich hat man in Berlin Fehler gemacht und dabei wurde das Kurzarbeitergeld versehentlich in das Zusatzabkommen aufgenommen.“Damals Fehler, heute Machtspielchen? „Man versteckt sich hinter dem Wort Berechnungsgrundlage, aber de facto ist es eine Doppelbesteuerung“, sagt Schulien. Und Schmitt meint, dass durch den Fiskalausgleich in diesem Fall de facto sogar dreimal besteuert werde. Diesen zahlt Frankreich für Aktive, Rentner, nicht-selbständige Grenzgänger (1,5 Prozent von deren gesamten Bruttojahresvergütungen) seit 2016 an Deutschland, der Ausgleich belaufe sich auf rund 60 Millionen Euro im Jahr.
Auch der Europäischen Kommission liege eine Klage ums Kurzarbeitergeld von Grenzgängern vor, die Basis sein könnte für „ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland“, mutmaßt Schmitt von der Grenzgängervereinigung im Département Moselle. Eine Rückzahlung des Kurzarbeitergelds hält Anwalt Eric Schulien bei Erfolg der Klagen für „sehr realistisch“, möglich wäre dies dann ab 2017. In einem Einzelfall, bei dem es um das – ebenfalls von dem geänderten Zusatzabkommen betroffene – Krankengeld ging, habe Schulien für einen Mandanten eine Rückzahlung in Höhe von rund 5000 Euro erstritten.