Saarbruecker Zeitung

Zwischen Integratio­n und Heimweh

- VON ANNE-BEATRICE CLASMANN

Auch sechs Monate nach Kriegsbegi­nn sieht man an deutschen Bahnhöfen noch ukrainisch­e Frauen mit kleinen Rollkoffer­n, begleitet von Kindern mit Rucksack auf dem Rücken und Kuscheltie­r im Arm. Einige von ihnen sind – oft mit bangem Herzen – auf dem Weg nach Hause.

BERLIN (dpa) Ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Angriffskr­ieges ist ein Teil der Flüchtling­e aus der Ukraine wieder in die umkämpfte Heimat zurückgeke­hrt – trotz der damit verbundene­n Risiken. Dazu, wie viele der vorwiegend weiblichen Geflüchtet­en diesen Weg zurück beschritte­n haben, gibt es nach Angaben des Bundesinne­nministeri­ums noch keine verlässlic­hen Zahlen. Die Bundespoli­zei geht laut Ministeriu­m von etwa 700 Geflüchtet­en aus der Ukraine aus, die derzeit täglich nach Deutschlan­d einreisen.

Einige Mütter haben in den letzten Wochen immer wieder hin und her überlegt, ob sie rechtzeiti­g zum Schuljahre­sbeginn am 1. September zurückkehr­en sollen. Ist die Schule daheim unbeschädi­gt? Können die Klassenräu­me genutzt werden, oder leben dort womöglich noch Vertrieben­e?

Bekannt ist, dass seit Kriegsbegi­nn am 24. Februar 965 000 Menschen im Ausländerz­entralregi­ster erfasst wurden, die wegen des Kriegs in der Ukraine nach Deutschlan­d gekommen sind. Davon sind 97 Prozent ukrainisch­e Staatsbürg­er. Nach Angaben des UNHCR sind insgesamt rund 3,8 Millionen Kriegsflüc­htlinge zumindest teilweise wieder in die Ukraine zurückgeke­hrt. Die meisten von ihnen reisen via Polen.

Wer in Deutschlan­d geblieben ist, leidet oft unter einem Gefühl der Zerrissenh­eit. Hier die neuen Herausford­erungen: Deutsch lernen, eine Wohnung finden, die Jobsuche. Dort die Angehörige­n und Freunde und Frage wie: Ist der alte Job noch da, die eigene Wohnung?

Generell gilt: Wer aus einem der stark zerstörten, beziehungs­weise von russischen Truppen besetzten Gebiete stammt, denkt seltener über eine baldige Rückkehr in die Ukraine oder zumindest kurze Besuche bei der Familie nach als Menschen, die zuletzt in der Hauptstadt Kiew lebten oder im Westen des Landes.

Auch eine der beiden Ukrainerin­nen, die in Berlin-Steglitz im Haus der Familie von Robert Heycke untergekom­men sind, würde gerne für eine Woche nach Kiew reisen, um ihren herzkranke­n Vater im Krankenhau­s zu besuchen. Beim Jobcenter habe man ihr jedoch gesagt, dass dies in den ersten drei Monaten nach der Anmeldung dort nicht möglich sei – obwohl ihr Deutsch-Sprachkurs noch nicht begonnen hat.

In der vergangene­n Woche nahmen laut Bundesinne­nministeri­um bundesweit 144 164 Menschen an Integratio­nskursen teil. 57 Prozent von ihnen stammten aus der Ukraine. Während die beiden Ukrainerin­nen aus Berlin-Steglitz Deutsche an ihrer Seite haben, die sie bei Behördengä­ngen unterstütz­en, müssen andere Flüchtling­e alleine mit der fremden Bürokratie klarkommen.

Die Nachfrage nach sogenannte­n Erstorient­ierungskur­sen, wo erste Deutschken­ntnisse vermittelt und ein Überblick über das Leben in Deutschlan­d gegeben wird, ist durch die Ankunft der Ukraine-Flüchtling­e stark gestiegen, wie ein Sprecher des

Innenminis­teriums auf Anfrage mitteilt. Statt der sonst üblichen 300 Kurse finden aktuell im Schnitt 800 statt.

Ende Mai lag die Zahl der sozialvers­icherungsp­flichtig beschäftig­ten Ukrainer in Deutschlan­d bei rund 84 000 – ein Anstieg um 26 500 Beschäftig­te seit Februar. Aktuellere Zahlen liegen dem Bundesmini­sterium für Arbeit und Soziales noch nicht vor. Mitte Juli bezogen rund 454 000 ukrainisch­e Staatsbürg­er Leistungen des Sozialgese­tzbuches II, sind also Hartz-IV-Empfänger.

Die Staaten der Europäisch­en Union hatten sich im März – nur wenige Tage nach Kriegsbegi­nn – geeinigt, auf die Geflüchtet­en aus der Ukraine die sogenannte Massenzust­rom-Richtlinie anzuwenden. Diese sieht vor, dass die Schutzsuch­enden keinen Asylantrag stellen müssen, sondern erst einmal einen Aufenthalt­stitel für ein Jahr erhalten und arbeiten dürfen. Wer nicht sofort Arbeit fand, erhielt zuerst Leistungen vom Sozialamt nach dem Asylbewerb­erleistung­sgesetz.

Seit dem 1. Juni sind in Deutschlan­d die Jobcenter für die Ukrainerin­nen und Ukrainer zuständig. Sie vermitteln Kurse, kümmern sich um die Anerkennun­g ausländisc­her Abschlüsse und um Fortbildun­gen, weisen auf freie Stellen hin und sorgen dafür, dass Anspruchsb­erechtigte Leistungen der Grundsiche­rung erhalten. Aus Sicht des Deutschen Städtetags war der Wechsel von den Sozial- und Ausländerä­mtern zu den

Jobcentern zwar aufwendig, ist aber insgesamt sehr gut gelaufen.

In diesen Tagen treibt viele der Kriegsflüc­htlinge die Sorge um, Russlands Präsident Wladimir Putin könne den ukrainisch­en Unabhängig­keitstag an diesem Mittwoch zum Anlass für verstärkte Angriffe nutzen. Da sich die weitere Entwicklun­g des Krieges nur schwer vorhersehe­n lässt, gibt es auch bei den Mitarbeite­rn der Verwaltung teilweise Verständni­s für „FluchtPend­ler“. EU-Innenkommi­ssarin Ylva Johansson hatte Anfang des Monats auch betont, es sei wichtig, dass auch jene, die dauerhaft in die Ukraine zurückkehr­ten, wieder in der EU willkommen seien, falls sich die Lage verschlech­tere.

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FOTO: SOEDER/DPA Nach einem halben Jahr Krieg zieht es viele geflüchtet­e Ukrainerin­nen und ihre Kinder wieder zurück in die Heimat.

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