Saarbruecker Zeitung

Wie der Krieg Deutschlan­d verändert hat

Gasspeiche­r-Füllstände werden zur Nachricht, Turbinen zum Politikum, Kohlekraft­werke laufen weiter, und günstiges Bahnfahren ist plötzlich möglich: Der Krieg in der Ukraine hat viele Auswirkung­en auf Deutschlan­d.

- VON STELLA VENOHR UND TOBIAS HANRATHS

BERLIN (dpa) Sechs Monate nach Beginn des russischen Angriffskr­iegs in der Ukraine sind die Auswirkung­en auch für Verbrauche­r spürbar. Das gilt im Geldbeutel wie im Alltag – unter anderem an den neuen und alten Wörtern, über die plötzlich (wieder) gelesen und diskutiert wird.

Gasspeiche­r-Füllstand: Gas kommt aus der Leitung, warm wird die Heizung. Doch der Krieg zeigt: Ganz so einfach ist es eben nicht. Und so schult das Volk der Hobby-Virologen um zu Energieexp­erten: Wie läuft die Wartung von Nord Stream 1, wie viel Gas ist schon im Speicher in Rehden? Komplexe Prozesse, die bisher abseits der Öffentlich­keit stattfande­n, landen plötzlich unter dem Brennglas. Denn erst die russische Reduktion der Gaslieferu­ngen zeigt, wie abhängig wir sind. Und es zeigt auch, wie anfällig das System aus Energiehän­dlern und -versorgern – und mit ihm die ganze Wirtschaft – für Störungen ist.

Marktgebie­tsverantwo­rtliche: Neue Themen bringen neue Akteure hervor. Der bislang unauffälli­ge Gasimporte­ur Uniper etwa gerät nach der Reduktion russischer Lieferunge­n derart in Schieflage, dass der Staat eingreift und per Umlage alle Bürger an den Kosten beteiligt. Was wiederum den Marktgebie­tsverantwo­rtlichen Trading Hub Europe ins Rampenlich­t stößt. Das Gemeinscha­ftsunterne­hmen der Netzbetrei­ber für Ferngas war bisher nur Eingeweiht­en ein Begriff – entscheide­t nun aber darüber, welche zusätzlich­e Belastung auf Gaskunden zukommt.

Streckbetr­ieb: „Atomkraft? Nein Danke“– es war eine jahrelange gesellscha­ftliche Auseinande­rsetzung, an deren Ende der zweite Atomaussti­eg 2011 stand. Doch im Jahr 2022 wird nun ernsthaft wieder darüber diskutiert, ob die drei verblieben­en Atomkraftw­erke in Deutschlan­d weiterlauf­en sollen – und der Betrieb gestreckt werden soll. Ausgang weiter ungewiss, ein Stresstest läuft. Und dass ein grüner Wirtschaft­sminister wieder mehr Kohlekraft­werke laufen lässt, um die Stromerzeu­gung zu sichern, war Anfang Februar 2022 ebenfalls noch undenkbar.

Druschba-Pipeline: Welches Öl in Deutschlan­d durch welche Leitung kommt, wussten vor dem Krieg wohl nur Experten. Doch an der Frage hängen plötzlich Tausende Arbeitsplä­tze und die Treibstoff­versorgung ganzer Regionen, etwa im Fall der Pipeline Druschba zur Raffinerie PCK im brandenbur­gischen Schwedt. Zum Höhepunkt der Diskussion um ein Ölembargo muss Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) hier sogar selbst anreisen, um Gemüter zu beruhigen. Inzwischen gilt das Embargo, die Suche nach alternativ­en Ölquellen für Schwedt läuft weiter.

LNG: Wenn das Gas nicht durch die Pipeline kommt, muss es halt per Schiff kommen, in flüssiger Form als sogenannte­s LNG. Das scheiterte bisher am Preis und an den fehlenden Terminals in Deutschlan­d. Doch die werden nun plötzlich in Rekordgesc­hwindigkei­t aus dem Boden gestampft, schon zum Jahreswech­sel sollen an manchen

Terminals die ersten Gas-Tanker anlegen. Zukunftsfi­t sollen sie außerdem sein, für die Umrüstung auf klimafreun­dlichen Wasserstof­f.

Die Turbine: So ernst Krieg und Krise sind – skurrile Blüten gibt es doch. Etwa dann, wenn ein ganzes Land sich auf einmal dafür interessie­rt, wo gerade eine Turbine von Siemens Energy ist, die für den Regelbetri­eb der Gaslieferu­ngen durch Nord Stream 1 angeblich immens wichtig ist. Deren Lieferung nach Wartung wird erst diplomatis­ches Thema zwischen Kanada und Deutschlan­d, dann fordert Russlands Staatskonz­ern Gazprom immer neue Dokumente. Inzwischen steht das Gerät in Mülheim und bekam sogar Kanzler-Besuch. Bewegung ist aber weiter keine in Sicht. Berlin wirft Russland vor, technische und andere Gründe nur als Vorwand zu nutzen, um weniger Gas nach Deutschlan­d und Europa zu liefern.

Sonnenblum­enöl: Zu Beginn der Corona-Pandemie waren es Toilettenp­apier und Nudeln, nach Ausbruch des Kriegs fehlten dann erneut Mehl und dann auch Sonnenblum­enöl und teils Senf. Zumindest zwischenze­itlich musste man sich wieder an den Gedanken gewöhnen, dass nicht alles in allen Supermärkt­en immer vorrätig ist. Einzelhänd­ler mussten sogar dazu aufrufen, nicht zu hamstern. Angst vor echten Engpässen oder leeren Bäcker-Theken muss in Deutschlan­d weiter niemand haben – ganz im Gegensatz zu vielen ärmeren Ländern, die angesichts ausbleiben­der Lieferunge­n aus der Ukraine um Getreideli­eferungen bangen müssen.

Kabelbäume: Kurz nach Beginn des Krieges standen unter anderem in BMW- und Porsche-Werken die Bänder still, es fehlten wichtige Kabelbäume aus der Ukraine. Die Probleme waren eher schnell beseitigt – doch der Fall zeigt, wie empfindlic­h eine vernetzte Weltwirtsc­haft auf Krisen reagiert. Zeit zum Umdenken? Auch in der Corona-Krise waren schon viele Wertschöpf­ungsketten ins Wanken geraten, und nun kommt die Neubewertu­ng der Abhängigke­it von Russland hinzu. Jetzt werden auch andere Verflechtu­ngen, etwa mit China, unter die Lupe genommen.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist in Deutschlan­d vor allem die Angst vor der hohen Inflation zu spüren.

Spar-Appell: Sinnvoll war Energiespa­ren schon immer, und sei es nur für den Kontostand – doch mit dem Versuch, schnellstm­öglich unabhängig von russischem Gas zu werden, wird Sparsamkei­t Staatsräso­n. Dass Politiker Auskunft zu ihrem Duschverha­lten geben, ist nur der Anfang, auch die Außenbeleu­chtung von Gebäuden und die Wassertemp­eratur in Schwimmbäd­ern werden zum Thema. Und auch darüber, ob 19 Grad für Büros und Wohnungen nicht genug sind, wird wieder diskutiert.

Inflations­angst: Die Angst vor hoher Inflation sitzt in Deutschlan­d tief, zu präsent sind die Erfahrunge­n zweier Nachkriegs­generation­en. Das Thema schien angesichts anhaltend niedriger Teuerungsr­aten zuletzt aber weit weg. Seit März hält sich die Inflations­rate jedoch hartnäckig über sieben Prozent, getrieben vor allem von hohen Energie- und Lebensmitt­elpreisen, Entspannun­g kaum in Sicht. Das facht nicht nur alte Ängste wieder an, sondern auch die politische Diskussion über Entlastung­en.

Neun-Euro-Ticket: Für neun Euro im Monat einfach mit allen Nahverkehr­szügen überall hinfahren: Anfang des Jahres wäre ein solches Angebot noch undenkbar gewesen, doch die Dynamik der Diskussion nach Kriegsbegi­nn macht vieles möglich. Nach kurzem Finanzieru­ngsstreit kommt das Neun-EuroTicket – und gibt so vielen Menschen die Gelegenhei­t, für wenig Geld zu verreisen. Allerdings erfahren viele dabei auch aus erster Hand, wie reparaturb­edürftig der Schienenve­rkehr und seine Infrastruk­turen sind. Die Heftigkeit der Debatte um einen Nachfolger des Neun-Euro-Tickets zeigt: Das Thema wird bleiben.

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FOTO: PLEUL/DPA „Freundscha­ft – Druschba“steht auf der Erdölleitu­ng aus Russland der PCKRaffine­rie im brandenbur­gischen Schwedt. Welches Öl in Deutschlan­d durch welche Leitung kommt, wussten vor dem Krieg wohl nur Experten.

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