Tödliches Rodeo in der Vorstadt
Jugendliche gefährden mit Motorrad-Akrobatik die Bewohner französischer Städte. Nun soll die Polizei hart durchgreifen.
PARIS Die Mutter der kleinen Kenya schaut müde in die Kamera. Sie ist Tag und Nacht bei ihrer siebenjährigen Tochter im Krankenhaus, seit das Mädchen Anfang August in Pontoise bei Paris von einem Motorradfahrer angefahren wurde und tagelang im Koma lag. Kenya ist ein Opfer der so genannten Rodeos, bei denen Jugendliche mit Motorrad-Akrobatik die Problemvorstädte Frankreichs unsicher machen. Sie spielte mit einem Freund auf der Straße, als der junge Mann die beiden Kinder erfasste. „Ich habe das Motorrad nicht einmal gehört, sondern nur gesehen, wie es auf Kenya und den Sohn meiner Freundin zu raste“, berichtet die Mutter im Fernsehsender BFM.
Der 18-Jährige, der die Kinder schwer verletzte, stellte sich zwei Tage nach der Tat der Polizei. Dort war er bereits bekannt – wegen Fahrens ohne Führerschein. „Bei diesem Drama gibt es die Verantwortung einzelner, aber auch der Gemeinschaft, denn der Staat weigert sich, den Rodeos dauerhaft ein Ende zu setzen“, kritisiert der Anwalt Raphaël Cabral, der im Auftrag der Mutter Anzeige gegen den Staat erstatten will.
Dabei versucht der für sein hartes Durchgreifen bekannte Innenminister Gérald Darmanin seit Wochen, das Phänomen in den Griff zu bekommen. Im Juni und Juli ließ er rund 8000 Kontrollen vornehmen und 1200 Verdächtige festnehmen. Für die nächsten Tage kündigte der frühere Konservative für jede Polizeiwache drei Anti-Rodeo-Einsätze pro Tag an. Die dabei gefahrenen Motorräder oder Quads sollen beschlagnahmt und hinterher zerstört werden.
Die Jugendlichen posten voller Stolz Videos ihrer waghalsigen Fahrten: darauf sind junge Männer zu sehen, die meist ohne Helm und mit nacktem Oberkörper, mit hoch gezogenem Vorderrad durch die Straßen brausen. Im April fuhr eine Gruppe sogar mit Motocross-Maschinen in Gegenrichtung auf dem Stand
„Wir sind in einer Vorstadt. Wir sind eingesperrt. Das ist der einzige Moment der Freiheit.“Ein Motorradfahrer
streifen der Autobahn A7 lang. Erst nach einem Monat konnte die Polizei einen der Fahrer festnehmen, der ein Video seiner Geisterfahrt in den sozialen Netzwerken veröffentlicht hatte. Ansonsten helfen der Polizei auch die Überwachungskameras, die in den Brennpunktvierteln angebracht sind, bei ihrer schwierigen Suche nach den Tätern.
„Wir sind in einer Vorstadt. Wir sind eingesperrt. Das ist der einzige Moment der Freiheit“, sagte einer der Motorrad-Akrobaten im Radio. In den berüchtigten Banlieues der französischen Großstädte fühlen
sich die Jugendlichen, die oft arbeitslos sind, vom Rest der Gesellschaft ausgegrenzt. Hochgetunte Motorräder sind schon für Jungen ab zehn Jahren die einzige Freizeitbeschäftigung. Die gefühlte Freiheit auf zwei Rädern kann allerdings tödlich enden: In Marseille starb vergangene Woche ein 19-Jähriger, der über sein Fahrzeug die Kontrolle verlor und gegen einen Pfosten prallte.
Dennoch wollen sich die Fahrer ihre Maschinen nicht so einfach von der Polizei abnehmen lassen. Im nordfranzösischen Roubaix warfen Jugendliche Steine und zündeten
Feuerwerkskörper, nachdem die Polizei zwei Quads beschlagnahmt hatte. Für die Polizisten ist es ohnehin nicht einfach, herauszufinden, wem denn die Maschinen gehören. Oft sind die Motorräder geliehen oder werden unter der Hand weiter gegeben.
Bereits 2018 hatte die Regierung die Maßnahmen gegen die Rodeos verschärft, die nicht nur Nachbarinnen und Nachbarn in Gefahr bringen, sondern auch wegen der aufheulenden Motoren eine starke Lärmbelästigung sind. Den durchweg männlichen Fahrern drohen
nun bis zu fünf Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von bis zu 75 000 Euro. 2021 stieg die Zahl der Verurteilungen der „Asphalt-Rowdys“um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Für die Polizei ist das noch nicht genug. Polizeivertreter schlugen vor, die Täter ähnlich wie in England zu verfolgen und gezielt anzufahren, um sie so zu Fall zu bringen und zu schnappen. Bisher sind solche Verfolgungsjagden verboten. Sie bedeuten nämlich eine Gefahr für alle anderen, die auf der Straße unterwegs sind. Ähnlich wie die Rodeos auch.