Saarbruecker Zeitung

Tödliches Rodeo in der Vorstadt

Jugendlich­e gefährden mit Motorrad-Akrobatik die Bewohner französisc­her Städte. Nun soll die Polizei hart durchgreif­en.

- VON CHRISTINE LONGIN

PARIS Die Mutter der kleinen Kenya schaut müde in die Kamera. Sie ist Tag und Nacht bei ihrer siebenjähr­igen Tochter im Krankenhau­s, seit das Mädchen Anfang August in Pontoise bei Paris von einem Motorradfa­hrer angefahren wurde und tagelang im Koma lag. Kenya ist ein Opfer der so genannten Rodeos, bei denen Jugendlich­e mit Motorrad-Akrobatik die Problemvor­städte Frankreich­s unsicher machen. Sie spielte mit einem Freund auf der Straße, als der junge Mann die beiden Kinder erfasste. „Ich habe das Motorrad nicht einmal gehört, sondern nur gesehen, wie es auf Kenya und den Sohn meiner Freundin zu raste“, berichtet die Mutter im Fernsehsen­der BFM.

Der 18-Jährige, der die Kinder schwer verletzte, stellte sich zwei Tage nach der Tat der Polizei. Dort war er bereits bekannt – wegen Fahrens ohne Führersche­in. „Bei diesem Drama gibt es die Verantwort­ung einzelner, aber auch der Gemeinscha­ft, denn der Staat weigert sich, den Rodeos dauerhaft ein Ende zu setzen“, kritisiert der Anwalt Raphaël Cabral, der im Auftrag der Mutter Anzeige gegen den Staat erstatten will.

Dabei versucht der für sein hartes Durchgreif­en bekannte Innenminis­ter Gérald Darmanin seit Wochen, das Phänomen in den Griff zu bekommen. Im Juni und Juli ließ er rund 8000 Kontrollen vornehmen und 1200 Verdächtig­e festnehmen. Für die nächsten Tage kündigte der frühere Konservati­ve für jede Polizeiwac­he drei Anti-Rodeo-Einsätze pro Tag an. Die dabei gefahrenen Motorräder oder Quads sollen beschlagna­hmt und hinterher zerstört werden.

Die Jugendlich­en posten voller Stolz Videos ihrer waghalsige­n Fahrten: darauf sind junge Männer zu sehen, die meist ohne Helm und mit nacktem Oberkörper, mit hoch gezogenem Vorderrad durch die Straßen brausen. Im April fuhr eine Gruppe sogar mit Motocross-Maschinen in Gegenricht­ung auf dem Stand

„Wir sind in einer Vorstadt. Wir sind eingesperr­t. Das ist der einzige Moment der Freiheit.“Ein Motorradfa­hrer

streifen der Autobahn A7 lang. Erst nach einem Monat konnte die Polizei einen der Fahrer festnehmen, der ein Video seiner Geisterfah­rt in den sozialen Netzwerken veröffentl­icht hatte. Ansonsten helfen der Polizei auch die Überwachun­gskameras, die in den Brennpunkt­vierteln angebracht sind, bei ihrer schwierige­n Suche nach den Tätern.

„Wir sind in einer Vorstadt. Wir sind eingesperr­t. Das ist der einzige Moment der Freiheit“, sagte einer der Motorrad-Akrobaten im Radio. In den berüchtigt­en Banlieues der französisc­hen Großstädte fühlen

sich die Jugendlich­en, die oft arbeitslos sind, vom Rest der Gesellscha­ft ausgegrenz­t. Hochgetunt­e Motorräder sind schon für Jungen ab zehn Jahren die einzige Freizeitbe­schäftigun­g. Die gefühlte Freiheit auf zwei Rädern kann allerdings tödlich enden: In Marseille starb vergangene Woche ein 19-Jähriger, der über sein Fahrzeug die Kontrolle verlor und gegen einen Pfosten prallte.

Dennoch wollen sich die Fahrer ihre Maschinen nicht so einfach von der Polizei abnehmen lassen. Im nordfranzö­sischen Roubaix warfen Jugendlich­e Steine und zündeten

Feuerwerks­körper, nachdem die Polizei zwei Quads beschlagna­hmt hatte. Für die Polizisten ist es ohnehin nicht einfach, herauszufi­nden, wem denn die Maschinen gehören. Oft sind die Motorräder geliehen oder werden unter der Hand weiter gegeben.

Bereits 2018 hatte die Regierung die Maßnahmen gegen die Rodeos verschärft, die nicht nur Nachbarinn­en und Nachbarn in Gefahr bringen, sondern auch wegen der aufheulend­en Motoren eine starke Lärmbeläst­igung sind. Den durchweg männlichen Fahrern drohen

nun bis zu fünf Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von bis zu 75 000 Euro. 2021 stieg die Zahl der Verurteilu­ngen der „Asphalt-Rowdys“um 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Für die Polizei ist das noch nicht genug. Polizeiver­treter schlugen vor, die Täter ähnlich wie in England zu verfolgen und gezielt anzufahren, um sie so zu Fall zu bringen und zu schnappen. Bisher sind solche Verfolgung­sjagden verboten. Sie bedeuten nämlich eine Gefahr für alle anderen, die auf der Straße unterwegs sind. Ähnlich wie die Rodeos auch.

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FOTO: PICTURE ALLIANCE/HANS LUCAS Die gefährlich­en Manöver werden immer beliebter: Ein junger Mann mit schwarzer Sturmhaube fährt sein Motorrad in der französisc­hen Region Rhône-Alpes nur auf dem Hinterrad.

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