Was wird aus besetzten ukrainischen Gebieten?
Der Kreml will sich die eroberten Regionen einverleiben und das mit Referenden bestätigen lassen. Doch Wünsche und Wirklichkeit liegen ein halbes Jahr nach der Invasion weit auseinander.
TALINN (ap) Die Ukraine hat im russischen Angriffskrieg die Kontrolle über Gebiete im Osten und Süden verloren, aber sie ist noch immer nicht besiegt. Das war im Kalkül des Kremls offensichtlich so nicht vorgesehen, was sich auch an der Situation in eroberten und besetzten Gebieten ablesen lässt.
Dort werden zwar russische Pässe zusammen mit einem Einbürgerungs-Schnellverfahren angeboten, russische Autokennzeichen ausgegeben und an Schulen nach russischen Lehrplänen unterrichtet. Aber die seit Wochen und Monaten angekündigten Referenden, mit denen Moskau sich Regionen wie Cherson, Saporischschja und die eroberten Regionen im Donbass in die Russische Föderation holen will, hat es noch nicht gegeben und sind auch nicht abzusehen.
Zwar haben russische Truppen Luhansk weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht, die andere Donbass-Region Donezk wird aber immer noch zu gut 40 Prozent von der Ukraine gehalten. Aus dem Angriffsist ein Zermürbungskrieg geworden.
Im russischen Staatsfernsehen ist die Zukunft der besetzten Gebiete entschieden: Bald werden dort Volksabstimmungen über den Beitritt zu Russland stattfinden, denen die Einwohner freudig zustimmen werden. Doch Propaganda und Wirklichkeit klaffen weit auseinander: Eine pulverisierte zivile Infrastruktur müsste vor dem Winter dringend repariert werden, Widerstand von Partisanen und Angriffe der regulären ukrainischen Streitkräfte destabilisieren die Lage für die russischen Besatzer.
Statt in der Sicherheit eines klaren Sieges finden sie sich in einem chaotischen Schlamassel wieder, befinden Analysten. „Es ist klar, dass sich die Situation auf lange Sicht nicht stabilisieren wird“, sagte Nikolai Petrov vom Russland- und Eurasiaprogramm der Denkfabrik Chatham House. „Da ist die Partisanenbewegung, Widerstand im Untergrund, es wird Terrorakte und Beschuss geben. Momentan ist der Eindruck, dass selbst der Kreml nicht wirklich daran glaubt, dass die Abhaltung dieser Referenden einen dicken Schlussstrich darunter ziehen würde.“
Moskaus Absicht, besetzte Gebiete Russland einverleiben zu wollen, war von Anfang an klar. Wenige Wochen nach der Invasion am 24. Februar erklärten Separatistenführer in den von Moskau als unabhängig anerkannten selbstproklamierten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, sie planten Referenden über den Beitritt zu Russland. Solche Ankündigungen kamen auch aus der weitgehend von Russland besetzten Region Cherson und aus Saporischschja, wo etliche Gebiete von russischen Truppen erobert wurden.
Aus dem Moskauer Machtzentrum hieß es, die Menschen in diesem Gebieten sollten formal selbst darüber entscheiden, ob sie zur Ukraine oder
Russland gehören wollten. Auf niedrigerer Ebene wurde über mögliche Abstimmungstermine gesprochen.
Der Duma-Abgeordnete Leonid Sluzki sprach für Cherson vom Juli, der ohne Referendum verstrich. Der von Moskau installierte Statthalter in besetzten Gebieten Saporischschjas, Wladimir Rogow, brachte die erste Septemberhälfte ins Gespräch. Sein Kollege in Cherson, Kirill Stremoussow, spricht von einem Termin vor Ende des Jahres.
Prorussische Amtsträger in Cherson und Saporischschja haben erklärt, konkrete Termine würden festgelegt, wenn russische Truppen den gesamten Donbass unter ihre Kontrolle gebracht hätten. Doch deren Offensive stockt.
Nicht aber die Propagandamaschine. Das russische Staatsfernsehen zeigt Plakate, auf denen „Zusammen mit Russland“prangt. Stremoussow berichtet in sozialen Medien fast täg
lich von seinen Reisen in der Region Cherson, auf denen er Leute treffe, die unbedingt zu Russland gehören wollten. Im russisch kontrollierten Teil von Saporischschja wurde eine Wahlkommission gebildet, die ein Referendum vorbereiten soll.
Ukrainische Amtsträger und Aktivisten zeichnen ein ganz anderes Bild. Der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, sagt, 90 Prozent der Bevölkerung der großen Städte der Region seien gegangen. Wer geblieben sei, habe mit Zerstörung und Elend zu kämpfen; die Menschen müssten ihr Wasser aus Pfützen holen und ihr Essen an einem Lagerfeuer im Hof direkt neben dem Müll zubereiten. „Unsere Leute, die es schaffen, nach Hause zurückzukehren, um ihre Habseligkeiten zu holen, erkennen Städte und Dörfer nicht wieder, die einst blühten“, sagte Hajdaj.
So schlimm ist es in Cherson nicht, das direkt nördlich der von Russland
2014 annektieren Halbinsel Krim liegt und kurz nach Kriegsbeginn ohne große Zerstörungen russisch besetzt wurde. Die Infrastruktur dort ist weitgehend intakt, berichtet der proukrainische Aktivist Konstantin Ryschenko. Aber die Versorgungslage sei schlecht, die Preise für Lebensmittel und Medikamente in die Höhe geschossen und die Qualität aus Russland gelieferter Waren des Grundbedarfs „abstoßend schlecht“.
Anfangs gab es regelmäßig Demonstrationen gegen die russische Besatzung, doch inzwischen würden sie von den Russen unterdrückt. „Seit Mai sind Demonstrationen unmöglich“, sagt Ryschenko. „Wenn man öffentlich etwas Proukrainisches sagt, eine Ansicht über was auch immer, wird man garantiert festgenommen, gefoltert und geschlagen.“
Der Bürgermeister der Stadt Melitopol in Saporischschja, Iwan Fedorow, berichtet Ähnliches. Im Mai
hätten Massenverhaftungen von Aktivisten und Meinungsmachern mit proukrainischen Ansichten begonnen, sagt Fedorow, der selbst einige Zeit in russischer Haft saß, weil er sich weigerte zu kooperieren. Trotz aller Einschüchterung und Repression würden nach seiner Schätzung nur rund zehn Prozent der in Melitopol verbliebenen Menschen für einen Anschluss an Russland stimmen.
Ryschenko, der Aktivist in Cherson, erwartet alles andere als eine faire und glaubwürdige Abstimmung. „Sie sprechen bereits davon, online zuhause abzustimmen“, sagt er. „Also verstehen Sie, die Legitimität dieses Referendums wird null sein.“Der russische Politikanalyst Dmitri Oreschkin sagt, weil so viele Menschen die besetzten Regionen verlassen hätten, „wird es nicht annähernd eine richtige Abstimmung der Bevölkerung über ihre Präferenzen geben“.