Das doppelte Versagen von Olympia 1972
Die Olympischen Spiele, die vor genau 50 Jahren eröffnet wurden, waren zukunftsweisend. Sie hätten zu einem Meilenstein der deutschen Nachkriegsgeschichte werden können. Doch das Massaker von München führte zu einer Zäsur ganz anderer Art. Noch heute wirk
MÜNCHEN (dpa) Heiter, fröhlich, bunt – zehn Tage lang waren die Olympischen Spiele von München Sportspektakel, Volksfest und Happening in einem. Doch das Massaker an den israelischen Sportlern machte aus den Spielen des Friedens Spiele des Grauens. Kein sportliches Weltereignis erlebte eine solch brutale Wendung wie Olympia 1972: von unbeschwerter Freude zu unendlichem Leid.
Olympia vor 50 Jahren– das waren die feiernden Menschen im Olympiapark, die Architektur von Günter Behnisch und die Zeltdachkonstruktion von Frei Otto, das DesignGesamtkunstwerk von Otl Aicher, das Dackel-Maskottchen Waldi, die Dirndl der Hostessen und die spätere schwedische Königin Silvia Sommerlath.
Olympia vor 50 Jahren– das waren Sportler wie US-Schwimmer Mark Spitz mit sieben Mal Gold, die bezaubernde 17-jährige UdSSR-Turnerin Olga Korbut, Weitsprung-Olympiasiegerin Heide Rosendahl mit ihrer Nickelbrille. Es waren die kraftvolle DDR-Sprinterin Renate Stecher, John Akii-Bua aus Uganda, der nach seinem Sieg über 400 Meter Hürden die Ehrenrunde erfand, und die Freude der 16-jährigen Hochspringerin Ulrike Meyfarth nach ihrem Weltrekord.
Olympia vor 50 Jahren– das waren aber auch vermummte palästinensische Terroristen auf dem Balkon des israelischen Quartiers in der Connollystraße 31, Polizisten in Trainingsanzügen auf den Dächern des olympischen Dorfes, ausgebrannte Hubschrauber auf dem Flughafen in Fürstenfeldbruck. Und der greise IOC-Präsident Avery Brundage bei der Trauerfeier und seine Worte: „The games must go on.“
Er neige „zu der Auffassung, dass die Erinnerung an die Münchner Spiele nicht überwiegend oder gar ausschließlich durch den mörderischen Anschlag geprägt ist“, schrieb der damalige Münchner Bürgermeister Hans-Jochen Vogel dennoch im Vorwort zur 2012 erschienenen deutschen Ausgabe des Buches „München 1972“.
München und Deutschland hatten dem Beginn der Spiele entgegengefiebert. 36 Jahre nach den NaziSpielen von Berlin war es das Ziel von Politik und Organisatoren, den West-Teil Deutschlands als demokratisches, offenes und geläutertes Land zu präsentieren.
Mehr als 7000 Sportlerinnen und Sportler aus 121 Ländern waren nach München und an den Segel-Standort Kiel gekommen. Die Eröffnungsfeier am 26. August wurde vor 80 000 Zuschauern im Olympiastadion und einer Milliarde TV-Zuschauern weltweit ein unbeschwertes Fest.
Für einen kurzen Moment war die politische Großwetterlage vergessen, der Kalte Krieg zwischen Ost und West, der Vietnamkrieg oder die Bedrohung der inneren Sicherheit in der Bundesrepublik durch die Rote Armee Fraktion um Andreas Baader und Ulrike Meinhof.
Dennoch hatte die Eröffnung auch politische Aspekte: Erstmals durfte eine DDR-Mannschaft mit eigener Flagge einlaufen. Und das beim Klassenfeind. Ein Prestige-Erfolg für die Regierung in Ost-Berlin. Wie später die Tatsache, dass die kleine DDR im Medaillenspiegel am Ende als Dritte vor der Bundesrepublik als Vierte landete.
In den Tagen nach der Eröffnung setzte sich die heitere Stimmung fort. Das erste Gastgeber-Gold holte Heide Rosendahl im Weitsprung. Zum erfolgreichsten Leichtathletik-Tag für die Gastgeber wurde der 3. September. Hildegard Falck siegte über 800 Meter, der Geher Bernd Kannenberg über 50 Kilometer. Klaus Wolfermann warf den Speer zwei Zentimeter weiter als Weltrekordhalter Janis Lusis für die UdSSR.
Einen Tag später sorgte Ulrike Meyfarth für einen magischen Moment. Die Schülerin war im Hochsprung nicht als Favoritin angetreten. Am Ende stand sie ganz oben mit Weltrekord.
Wenige Stunden später war nichts mehr, wie es war. In der Früh des 5. September kletterten acht Mitglieder der Terrorgruppe „Schwarzer September“über den Zaun ins olympische Dorf. Begünstigt durch die bewusst lockeren Sicherheitsvor
kehrungen. Die bekannten Gefahren des Terrorismus waren ignoriert worden. Ein tödlicher Leichtsinn.
Die Palästinenser drangen in das Quartier der israelischen Mannschaft ein, erschossen Ringer-Trainer Moshe Muni Weinberg, Ge
wichtheber Yossef Romano ließen sie verbluten. Neun Israelis hielten sie als Geisel. Ihre Forderung: die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischer Gefangenschaft, der RAF-Mitglieder Baader und Meinhof und eines Japaners. Israels Regierung lehnte das ab.
Es folgte eine Sammlung von Unfähigkeit und Ignoranz überforderter Behörden und unerklärlichem Dilettantismus, der in die Katastrophe der fehlgeschlagenen Befreiungsaktion in Fürstenfeldbruck mündete.
Die israelischen Geiseln wurden von den Terroristen erschossen, ebenso der Polizist Anton Fliegerbauer. Fünf Terroristen starben ebenfalls, drei wurden verhaftet und schon im Oktober durch die Entführung der Lufthansa-Maschine „Kiel“freigepresst.
Der Umgang der Behörden und der deutschen Politik mit den Hinterbliebenen gilt nicht wenigen als ein zweites Versagen, ein moralisches. „Bis heute, 50 Jahre später, hat keiner mal gesagt: ‚Es tut uns
leid. Wir haben falsch entschieden. Wir waren inkompetent‘. Sie waren arrogant und haben uns die ganze Zeit gedemütigt“, sagte Ankie Spitzer, Sprecherin der Opferfamilien, im Juni der ARD.
45 Jahre hatte es gedauert, bis im Olympiapark 2017 ein Erinnerungsort entstand. 50 Jahre danach gibt es weiter Streit um die Anerkennung des Leids und eine angemessene Entschädigung.
Olympia 1972 nahm sich einen Tag zum Innehalten. Doch nach der Trauerfeier sollte es im Sinne von Brundage und den deutschen Organisatoren weitergehen. Die Spiele wurden um einen Tag verlängert.
„Den Entschluss, dass die Spiele weitergehen, fand ich richtig. Wir durften uns nicht kleinkriegen lassen. Unsere Art zu kämpfen war auf der Laufbahn und nicht mit Waffen“, sagte Heide Rosendahl 50 Jahre später. Den Sportlerinnen und Sportlern wurde weiter zugejubelt, die Fröhlichkeit und Leichtigkeit aber waren weg.