So lyrisch ist Luxemburger Busfahren
Die preisgekrönte Autorin Ulrike Bail liest am Montag in Saarbrücken. Wir haben mit ihr gesprochen – über ihre Wahlheimat Luxemburg, den Klang von Gedichten und die Freuden des Busfahrens.
LUXEMBURG Bei einer Busfahrt in Luxemburg hat sich Ulrike Bail erschrocken. Da hörte sie die Ansage „deportation“. Weil sie nicht gleich an die Haltestelle und die dazugehörige Straße „rue de la deportation“dachte, wurde ihr mit einem Schlag der Schrecken bewusst, der in diesem Wort steckt. Ein befremdender Moment bei einer alltäglichen Busfahrt – und für die Lyrikerin einer der beiden Anstöße für ihren Band „statt einer ankunft“, für den sie sich von Bus- und Straßenbahnhaltestellen in Luxemburg-Stadt inspirieren ließ.
Der zweite Moment war an einer Haltestelle, die sich „Verlorenkost“nennt. „Da dachte ich – so ein kurioses, originelles Wort – und begann, mich für diese Haltestelle zu interessieren.“Bail fährt ohnehin sehr gerne Bus, „da träume ich so vor mich hin, beobachte Leute, schaue aus dem Fenster“. Mit der Idee eines Gedichtbandes im Hinterkopf begann sie Fahrpläne zu studieren, Strecken abzufahren, Notizen vor Ort zu sammeln und zuhause zu recherchieren. „Ich geriet in einen Sog. Man schaut genauer hin, vieles fällt einem auf.“Die Fahrtkosten dieser Recherche blieben derweil bei null, weil im glücklichen Luxemburg der ÖPNV für die Kundschaft kostenfrei ist. „Das sollte er eigentlich überall sein“, sagt Bail, „aber auf eine Finanzierungsdiskussion will ich mich jetzt nur ungerne einlassen“.
Das Buch folgt zwei virtuellen Routen in Luxemburg-Stadt, von „binnchen“bis „parc de l’europe“und von „aéroport“bis „val fleuri“. Es würde sich also anbieten, beim nächsten Luxemburg-Besuch die Strecken mal mit dem Buch in der Hand abzufahren; manche Texte sind voller Melancholie, wenn etwa an der Haltestelle „faïencerie“die Trauer auf die Fahrkarte gestempelt scheint, „so erkennt man mich / sie
gilt für unbegrenzte fahrten /an der haltestelle faïencerie lege / ich sie auf die bank / das gesicht nach unten“. An der Haltestelle „badanstalt“stellt sich der erste sonnige Tag des Jahres ein, das lyrische Ich schlägt „den saum über das knie zurück“. Die Endhaltestelle „parc de l’europe“wird zum Sinnbild eines sich abschottenden Europas, Bail nennt die Flüchtlingslager Moria, Idlib und Cox’s bazaar, schreibt vom „verlust / der humanität“.
2019 war diese intensive Fahrund Recherchezeit, bevor Corona den öffentlichen Nahverkehr aufs Abstellgleis zwang. Dass der Band erst im Herbst 2021 erschien, war nicht der Pandemie geschuldet, sondern Bails üblicher Arbeitsweise: „Ich schreibe meine Bücher nicht in einem Jahr“, sagt sie, „Gedichte müssen wachsen und manchmal ruhen. Meine Gedichte brauchen sehr lange, auch wenn sie so kurz sind.“Es sei alles eine Frage des Klangs, sagt sie. „Wenn der stimmt, dann ist das Gedicht fertig.“
Seit 2005 lebt Bail in Luxemburg, sie schätzt „dieses kulturelle Land mit seiner schönen Landschaft, den vielen Nationen, der Vielsprachigkeit“. Die ist auch Thema des ersten Gedichts im Band, im Bus „glimmen satzteilchen auf / in unbekannten sprachen / fangen sich silbe um silbe“. Für Bail eine regelmäßig wiederkehrende und willkommene Situation: „Ich sitze im Bus, die Leute sprechen verschiedene Sprachen. Ich verstehe kein Wort und fange an, dem Klang zu lauschen, die Silben sind wie Töne.“
Gedichte in der Sprache ihrer Wahlheimat zu schreiben, käme Bail nicht in den Sinn. „Ich bin sehr gut im Analysieren von Sprache, aber nicht sehr gut im Lernen von Fremdsprachen“, sagt sie, „ich würde mich nie trauen, etwas in einer anderen Sprache zu schreiben“. Vor Luxemburg war Bail, die aus Metzingen an der Schwäbischen Alb kommt, an der Ruhr-Universität in Bochum. Nach dem Studium von Germanistik und Evangelischer Theologie hatte sie
dort promoviert und habilitiert. Nach einigen Jahren als Dozentin für Exegese des Alten Testaments arbeitet sie heute als Schriftstellerin. „Ich mache beruflich jetzt das, was ich eigentlich schon immer machen wollte.“
Dass Lyrikbände sich nicht in Bestsellerlisten tummeln und ihre Autorinnen und Autoren nicht reich machen, ist Bail klar. „Damit muss man leben und darf nicht auf die Verkaufszahlen schauen.“Andererseits befreie das von kommerziellen Erwartungen und unterlaufe „subtil alle kapitalistischen Systeme“. Eine Überraschung sei es aber doch gewesen, dass von ihrem Lyrikband „wie viele faden tief“(2020) „erstaunlich viele Exemplare verkauft wurden“. Wohl auch, schätzt sie, durch den renommierten Luxemburger Prix Servais, den Preis für das bedeutendste veröffentliche literarische Werk eines Jahrgangs, dotiert mit 6000 Euro. Erfreulich natürlich für Bail und ihre in diesem Band vom Nähen inspirierten Gedichte, aber auch „für die zeitgenössische Lyrik insgesamt“, sagt sie. Denn die werde ohne Preise ja gerne übersehen, auch in Buchhandlungen, wo es oft kaum eigene Regale für Lyrikbände gebe. Gestützt von einem Preis aber „liegt so ein Buch auch in den Buchhandlungen aus, was es sonst wohl nicht täte. Manche Leute fangen an zu blättern und finden es dann möglicherweise sehr interessant.“
Für Bail, Jahrgang 1960, sind Gedichte „ein tiefer Resonanzraum, in dem die Leser und Leserinnen, angeregt von den vielleicht ungewohnten, mehrschichtigen Bildern, sich Gedanken machen und Perspektiven ausprobieren können“, ob nun bei der Eigenlektüre oder bei öffentlichen Lesungen. Dort trägt die Autorin ihre Gedichte immer zweimal hintereinander vor, „weil sie sehr kurz und verdichtet sind“. Zu Gedichten gehörten „immer Klang und Stimme“, es gebe oft Verschiebungen in Betonung und Akzentuierung, damit auch im Lesen und Hören der Texte. Ihren Leserinnen und Lesern empfiehlt sie ebenfalls das laute Lesen zuhause. „Sprache ist vielschichtig und vieldeutig, Gedichte sind immer mehrstimmig.“
Die erste Zeit der Pandemie hat Bail möglicherweise anders erlebt als manch andere. „Am Anfang war ich geschockt wie alle und habe mir viele Sorgen um Freunde und Familie gemacht“, sagt sie, „aber als Schriftstellerin oder Dichterin sitzt man sowieso viel und alleine am Schreibtisch, von daher war es nicht der ganz große Unterschied“. Mit dem Hund sei sie weiterhin jeden Tag eine Stunde in den Wald gegangen, eingesperrt habe sie sich kaum gefühlt, „ich habe einfach weitergearbeitet“.
Das Gedicht aus „statt einer ankunft“, das Bail als letztes schrieb, schon im Lockdown, ist nicht nach einer Haltestelle benannt, sondern nach der italienischen Stadt Bergamo, Symbol eines wütenden Virus und des Todes in der Pandemie. Da heißt es: „den winter im mund durch die leere / stadt fahren in der hand den ausgesperrten atem / gebete wie einwegtücher oder gestrüpp / einen ort suchen für die allein gestorben sind / vielleicht ein bergbirnenhain eine hohe buche / ich würde den halt bergamo nennen / bergamo arrêt supprimé“– eine einsame Haltestelle also, die nicht mehr angefahren wird.
Termin: Ulrike Bail kommt am Montag ins Saarländische Künstlerhaus in Saarbrücken. Ab 20 Uhr liest sie aus den Bänden „wie viele faden tief“und „statt einer ankunft“(beide im Conte-Verlag erschienen) und einige unveröffentlichte Gedichte.
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