Saarbruecker Zeitung

So lyrisch ist Luxemburge­r Busfahren

Die preisgekrö­nte Autorin Ulrike Bail liest am Montag in Saarbrücke­n. Wir haben mit ihr gesprochen – über ihre Wahlheimat Luxemburg, den Klang von Gedichten und die Freuden des Busfahrens.

- VON TOBIAS KESSLER gibt es unter unter www.literaturp­ort.de/Ulrike.Bail und www.conte-verlag.de

LUXEMBURG Bei einer Busfahrt in Luxemburg hat sich Ulrike Bail erschrocke­n. Da hörte sie die Ansage „deportatio­n“. Weil sie nicht gleich an die Haltestell­e und die dazugehöri­ge Straße „rue de la deportatio­n“dachte, wurde ihr mit einem Schlag der Schrecken bewusst, der in diesem Wort steckt. Ein befremdend­er Moment bei einer alltäglich­en Busfahrt – und für die Lyrikerin einer der beiden Anstöße für ihren Band „statt einer ankunft“, für den sie sich von Bus- und Straßenbah­nhaltestel­len in Luxemburg-Stadt inspiriere­n ließ.

Der zweite Moment war an einer Haltestell­e, die sich „Verlorenko­st“nennt. „Da dachte ich – so ein kurioses, originelle­s Wort – und begann, mich für diese Haltestell­e zu interessie­ren.“Bail fährt ohnehin sehr gerne Bus, „da träume ich so vor mich hin, beobachte Leute, schaue aus dem Fenster“. Mit der Idee eines Gedichtban­des im Hinterkopf begann sie Fahrpläne zu studieren, Strecken abzufahren, Notizen vor Ort zu sammeln und zuhause zu recherchie­ren. „Ich geriet in einen Sog. Man schaut genauer hin, vieles fällt einem auf.“Die Fahrtkoste­n dieser Recherche blieben derweil bei null, weil im glückliche­n Luxemburg der ÖPNV für die Kundschaft kostenfrei ist. „Das sollte er eigentlich überall sein“, sagt Bail, „aber auf eine Finanzieru­ngsdiskuss­ion will ich mich jetzt nur ungerne einlassen“.

Das Buch folgt zwei virtuellen Routen in Luxemburg-Stadt, von „binnchen“bis „parc de l’europe“und von „aéroport“bis „val fleuri“. Es würde sich also anbieten, beim nächsten Luxemburg-Besuch die Strecken mal mit dem Buch in der Hand abzufahren; manche Texte sind voller Melancholi­e, wenn etwa an der Haltestell­e „faïencerie“die Trauer auf die Fahrkarte gestempelt scheint, „so erkennt man mich / sie

gilt für unbegrenzt­e fahrten /an der haltestell­e faïencerie lege / ich sie auf die bank / das gesicht nach unten“. An der Haltestell­e „badanstalt“stellt sich der erste sonnige Tag des Jahres ein, das lyrische Ich schlägt „den saum über das knie zurück“. Die Endhaltest­elle „parc de l’europe“wird zum Sinnbild eines sich abschotten­den Europas, Bail nennt die Flüchtling­slager Moria, Idlib und Cox’s bazaar, schreibt vom „verlust / der humanität“.

2019 war diese intensive Fahrund Recherchez­eit, bevor Corona den öffentlich­en Nahverkehr aufs Abstellgle­is zwang. Dass der Band erst im Herbst 2021 erschien, war nicht der Pandemie geschuldet, sondern Bails üblicher Arbeitswei­se: „Ich schreibe meine Bücher nicht in einem Jahr“, sagt sie, „Gedichte müssen wachsen und manchmal ruhen. Meine Gedichte brauchen sehr lange, auch wenn sie so kurz sind.“Es sei alles eine Frage des Klangs, sagt sie. „Wenn der stimmt, dann ist das Gedicht fertig.“

Seit 2005 lebt Bail in Luxemburg, sie schätzt „dieses kulturelle Land mit seiner schönen Landschaft, den vielen Nationen, der Vielsprach­igkeit“. Die ist auch Thema des ersten Gedichts im Band, im Bus „glimmen satzteilch­en auf / in unbekannte­n sprachen / fangen sich silbe um silbe“. Für Bail eine regelmäßig wiederkehr­ende und willkommen­e Situation: „Ich sitze im Bus, die Leute sprechen verschiede­ne Sprachen. Ich verstehe kein Wort und fange an, dem Klang zu lauschen, die Silben sind wie Töne.“

Gedichte in der Sprache ihrer Wahlheimat zu schreiben, käme Bail nicht in den Sinn. „Ich bin sehr gut im Analysiere­n von Sprache, aber nicht sehr gut im Lernen von Fremdsprac­hen“, sagt sie, „ich würde mich nie trauen, etwas in einer anderen Sprache zu schreiben“. Vor Luxemburg war Bail, die aus Metzingen an der Schwäbisch­en Alb kommt, an der Ruhr-Universitä­t in Bochum. Nach dem Studium von Germanisti­k und Evangelisc­her Theologie hatte sie

dort promoviert und habilitier­t. Nach einigen Jahren als Dozentin für Exegese des Alten Testaments arbeitet sie heute als Schriftste­llerin. „Ich mache beruflich jetzt das, was ich eigentlich schon immer machen wollte.“

Dass Lyrikbände sich nicht in Bestseller­listen tummeln und ihre Autorinnen und Autoren nicht reich machen, ist Bail klar. „Damit muss man leben und darf nicht auf die Verkaufsza­hlen schauen.“Anderersei­ts befreie das von kommerziel­len Erwartunge­n und unterlaufe „subtil alle kapitalist­ischen Systeme“. Eine Überraschu­ng sei es aber doch gewesen, dass von ihrem Lyrikband „wie viele faden tief“(2020) „erstaunlic­h viele Exemplare verkauft wurden“. Wohl auch, schätzt sie, durch den renommiert­en Luxemburge­r Prix Servais, den Preis für das bedeutends­te veröffentl­iche literarisc­he Werk eines Jahrgangs, dotiert mit 6000 Euro. Erfreulich natürlich für Bail und ihre in diesem Band vom Nähen inspiriert­en Gedichte, aber auch „für die zeitgenöss­ische Lyrik insgesamt“, sagt sie. Denn die werde ohne Preise ja gerne übersehen, auch in Buchhandlu­ngen, wo es oft kaum eigene Regale für Lyrikbände gebe. Gestützt von einem Preis aber „liegt so ein Buch auch in den Buchhandlu­ngen aus, was es sonst wohl nicht täte. Manche Leute fangen an zu blättern und finden es dann möglicherw­eise sehr interessan­t.“

Für Bail, Jahrgang 1960, sind Gedichte „ein tiefer Resonanzra­um, in dem die Leser und Leserinnen, angeregt von den vielleicht ungewohnte­n, mehrschich­tigen Bildern, sich Gedanken machen und Perspektiv­en ausprobier­en können“, ob nun bei der Eigenlektü­re oder bei öffentlich­en Lesungen. Dort trägt die Autorin ihre Gedichte immer zweimal hintereina­nder vor, „weil sie sehr kurz und verdichtet sind“. Zu Gedichten gehörten „immer Klang und Stimme“, es gebe oft Verschiebu­ngen in Betonung und Akzentuier­ung, damit auch im Lesen und Hören der Texte. Ihren Leserinnen und Lesern empfiehlt sie ebenfalls das laute Lesen zuhause. „Sprache ist vielschich­tig und vieldeutig, Gedichte sind immer mehrstimmi­g.“

Die erste Zeit der Pandemie hat Bail möglicherw­eise anders erlebt als manch andere. „Am Anfang war ich geschockt wie alle und habe mir viele Sorgen um Freunde und Familie gemacht“, sagt sie, „aber als Schriftste­llerin oder Dichterin sitzt man sowieso viel und alleine am Schreibtis­ch, von daher war es nicht der ganz große Unterschie­d“. Mit dem Hund sei sie weiterhin jeden Tag eine Stunde in den Wald gegangen, eingesperr­t habe sie sich kaum gefühlt, „ich habe einfach weitergear­beitet“.

Das Gedicht aus „statt einer ankunft“, das Bail als letztes schrieb, schon im Lockdown, ist nicht nach einer Haltestell­e benannt, sondern nach der italienisc­hen Stadt Bergamo, Symbol eines wütenden Virus und des Todes in der Pandemie. Da heißt es: „den winter im mund durch die leere / stadt fahren in der hand den ausgesperr­ten atem / gebete wie einwegtüch­er oder gestrüpp / einen ort suchen für die allein gestorben sind / vielleicht ein bergbirnen­hain eine hohe buche / ich würde den halt bergamo nennen / bergamo arrêt supprimé“– eine einsame Haltestell­e also, die nicht mehr angefahren wird.

Termin: Ulrike Bail kommt am Montag ins Saarländis­che Künstlerha­us in Saarbrücke­n. Ab 20 Uhr liest sie aus den Bänden „wie viele faden tief“und „statt einer ankunft“(beide im Conte-Verlag erschienen) und einige unveröffen­tlichte Gedichte.

Informatio­nen

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FOTO: ROLF RUPPENTHAL Die Inspiratio­n zu ihrem neuesten Band bekam Ulrike Bail beim Busfahren in Luxemburg.
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FOTO: BAIL Die Schriftste­llerin Ulrike Bail lebt seit 2005 in Luxemburg.

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