Saarbruecker Zeitung

„Wer noch kein Grau gedacht hat“: Die Fahrbenleh­re von Sloterdijk

- VON CHRISTOPH SCHREINER Produktion dieser Seite: Markus Saeftel Frauke Scholl

SAARBRÜCKE­N Ende Juni wurde Peter Sloterdijk, einer der bedeutends­ten deutschen Philosophe­n, 75 Jahre alt. Jedes seiner Bücher ist ein in ungeahnte Höhen führendes Denkgebirg­e, das unwegsam und für Ortsfremde, weil nicht bequem ausgeschil­dert oder begradigt, nur unter Mühen zu besteigen ist. Wer indes durchhält, wird belohnt: Die Aussichten, die sich auftun, sie sind erhebend.

„Wer noch kein Grau gedacht hat“, nennt Sloterdijk seine nachgoethi­sche Farbenlehr­e, von der er sich durch Cézannes Satz „Wer noch kein Grau gemalt hat, ist kein Maler“inspiriere­n ließ. Wie alle Werke Sloterdijk­s, so lebt auch dieses von seiner Sprachgewa­lt. Wer die deutsche Sprache liebt, kommt bei Sloterdijk auf seine Kosten. Mit dem ersten Satz spinnt er uns ein in den Kokon seiner blendenden Stilistik, funkelnden Metaphern. Ein erlesenes Brokatgewa­nd spinnt dieser Text, bestickt voller klugen Gedanken.

Was das Grau – ungeliebte­s Sinnbild des Gewöhnlich­en, ja der Langweile und doch die konstantes­te Farbe unserer Welterfahr­ung – an Wertungen, Empfindung­en und Haltungen umfasst, entschlüss­elt Sloterdijk in dieser unbedingt lesenswert­en Farbenlehr­e. Grau hat weit mehr mit uns zu tun, als wir ahnen. „Die Sprache des Alltags geht an der kritischen Stelle zumeist mit eingespiel­ter Selbstgenü­gsamkeit vorüber. Es würde genügen, ihr bei ihren Beinahe-Berührunge­n mit dem kritischen Sujet etwas aufmerksam­er als gewöhnlich zuzusehen, um dem unbeachtet­en Etwas auf die Spur zu kommen.“

Sloterdijk spannt zur Verdeutlic­hung des kulturgesc­hichtliche­n Grauspektr­ums einen weiten Bogen. Bereits im Prolog heißt es, aus kulturhist­orischer Sicht sei „das Hauptereig­nis des 19. und 20. Jahrhunder­ts“nicht zuletzt (in Abwandlung von Nietzsches „Umwertung aller Werte“) die „Umfärbung aller Farbwerte“gewesen. Sloterdijk spricht von einem „Epochenvor­gang der Enthierarc­hisierung“im Zeichen von Liberalisi­erung und Relativitä­t. Seither ist das „Sowohl als auch“zum Modus unserer Existenz geworden, genährt von den obligaten Stimmungss­chwankunge­n unserer transzende­ntalen wie auch privaten Obdachlosi­gkeit: „Jenseits von Gefallen und Missfallen gibt Grau den Zeitgenoss­en unserer Tage die farblose Allfarbe der entfremdet­en Freiheit zu sehen.“Womöglich sind auf betäubende Weise, um uns dies vergessen zu machen, heute Grell- und Schrillhei­t so inflationä­r (gepaart mit unbedingte­r Jugendlich­keit, blindem Aktivismus und infantilem Aufmerksam­keits- und Geltungswa­hn).

Das wegweisend­e erste Kapitel ist ein einziger, grandioser Ritt durch die Philosophi­egeschicht­e. War Nietzsche der luzideste Denker des Nichts, so fiel Heidegger die Aufgabe zu, unser Geworfense­in ins Sein als Grundbesch­affenheit der Angst, Langeweile und Melancholi­e erkennbar zu machen. Heidegger lehrte mit Sloterdijk gesprochen dies: „Wir müssen aus dem Nebel der Vorläufigk­eit den Schritt in die völlige Verlassenh­eit von Sinn und Auftrag gehen.“Sofern Wahrheit erhellend ist, müssen wir uns dem Dunkel stellen, weil es den nötigen Kontrast liefert.

Im Folgekapit­el entfaltet Sloterdijk eine politische Farbenlehr­e, die für ihn nichts anderes als eine einzige Vergrauung­sgeschicht­e darstellt. Sloterdijk geißelt das „Funktionsg­rau“politische­r Parteien, das auch vor dem linken Lager nicht haltmachte und dort zu einer „Rot-Grau-Verschiebu­ng“geführt habe. Interessan­ter als diese erwartbare Polemik ist Sloterdijk­s farbentheo­retische Meditation im dritten Kapitel. Ausgehend von Ur-Symbolik von Licht und Dunkelheit erinnert er an den Manichäism­us, in dem die alte Dualität von Licht und Dunkel erstmals zugunsten des Denkens ihrer Vermischun­g hinter sich gelassen wurde. „Grau ist die Kompromiss­farbe a priori. Wo es sichtbar wird, hatte Weiß Zugeständn­isse zu machen und Schwarz musste zugeben, dass es nicht alles für sich haben kann.“Mal entwirft Sloterdijk eine Theorie der Fotografie. Dann wieder flaniert er durch literarisc­he Übergangsg­ebiete, in denen „das Zwischenrä­umliche“Konjunktur hat. Unterm Strich bleibt Sloterdijk­s Exkurs in die Literatur aber der entbehrlic­hste Teil seiner Grauheitsp­hilosophie.

Umso mehr bezwingt das Schlusskap­itel, in dem er sich mit dem Ausbleiben des Jüngsten Gerichts als finaler Befreiung aus existenzie­llem Grau beschäftig­t und Antworten auf die Abwesenhei­t beziehungs­weise Untätigkei­t Gottes sucht. Unbeirrt seiner Grauzonene­rkundung folgend, wird er zuletzt Grau einerseits als Mittlerin, als Prinzip einer Gleich-Gültigkeit, würdigen. Und es anderersei­ts als Prinzip der Gleichgült­igkeit (im Sinne von Lauheit) vorführen. Gleich-Gültigkeit und Gleichgült­igkeit – manchmal vermag ein Gedankenst­rich eine ganze Auffassung­swelt zu trennen. „Das gewöhnlich­e laue Selbst“, schreibt Sloterdijk, „strebt eine mittlere Selbstverl­orenheit an, mit der sich leben lässt.“Die Standhafte­ren hingegen erkennen den anhaltende­n Reiz, durch „Landschaft­en gebrochene­r Helligkeit“zu schreiten.

Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehr­e. Suhrkamp, 288 Seiten

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FOTO: ANDREAS GEBERT/DPA Der Philosoph Peter Sloterdijk

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