„Wer noch kein Grau gedacht hat“: Die Fahrbenlehre von Sloterdijk
SAARBRÜCKEN Ende Juni wurde Peter Sloterdijk, einer der bedeutendsten deutschen Philosophen, 75 Jahre alt. Jedes seiner Bücher ist ein in ungeahnte Höhen führendes Denkgebirge, das unwegsam und für Ortsfremde, weil nicht bequem ausgeschildert oder begradigt, nur unter Mühen zu besteigen ist. Wer indes durchhält, wird belohnt: Die Aussichten, die sich auftun, sie sind erhebend.
„Wer noch kein Grau gedacht hat“, nennt Sloterdijk seine nachgoethische Farbenlehre, von der er sich durch Cézannes Satz „Wer noch kein Grau gemalt hat, ist kein Maler“inspirieren ließ. Wie alle Werke Sloterdijks, so lebt auch dieses von seiner Sprachgewalt. Wer die deutsche Sprache liebt, kommt bei Sloterdijk auf seine Kosten. Mit dem ersten Satz spinnt er uns ein in den Kokon seiner blendenden Stilistik, funkelnden Metaphern. Ein erlesenes Brokatgewand spinnt dieser Text, bestickt voller klugen Gedanken.
Was das Grau – ungeliebtes Sinnbild des Gewöhnlichen, ja der Langweile und doch die konstanteste Farbe unserer Welterfahrung – an Wertungen, Empfindungen und Haltungen umfasst, entschlüsselt Sloterdijk in dieser unbedingt lesenswerten Farbenlehre. Grau hat weit mehr mit uns zu tun, als wir ahnen. „Die Sprache des Alltags geht an der kritischen Stelle zumeist mit eingespielter Selbstgenügsamkeit vorüber. Es würde genügen, ihr bei ihren Beinahe-Berührungen mit dem kritischen Sujet etwas aufmerksamer als gewöhnlich zuzusehen, um dem unbeachteten Etwas auf die Spur zu kommen.“
Sloterdijk spannt zur Verdeutlichung des kulturgeschichtlichen Grauspektrums einen weiten Bogen. Bereits im Prolog heißt es, aus kulturhistorischer Sicht sei „das Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts“nicht zuletzt (in Abwandlung von Nietzsches „Umwertung aller Werte“) die „Umfärbung aller Farbwerte“gewesen. Sloterdijk spricht von einem „Epochenvorgang der Enthierarchisierung“im Zeichen von Liberalisierung und Relativität. Seither ist das „Sowohl als auch“zum Modus unserer Existenz geworden, genährt von den obligaten Stimmungsschwankungen unserer transzendentalen wie auch privaten Obdachlosigkeit: „Jenseits von Gefallen und Missfallen gibt Grau den Zeitgenossen unserer Tage die farblose Allfarbe der entfremdeten Freiheit zu sehen.“Womöglich sind auf betäubende Weise, um uns dies vergessen zu machen, heute Grell- und Schrillheit so inflationär (gepaart mit unbedingter Jugendlichkeit, blindem Aktivismus und infantilem Aufmerksamkeits- und Geltungswahn).
Das wegweisende erste Kapitel ist ein einziger, grandioser Ritt durch die Philosophiegeschichte. War Nietzsche der luzideste Denker des Nichts, so fiel Heidegger die Aufgabe zu, unser Geworfensein ins Sein als Grundbeschaffenheit der Angst, Langeweile und Melancholie erkennbar zu machen. Heidegger lehrte mit Sloterdijk gesprochen dies: „Wir müssen aus dem Nebel der Vorläufigkeit den Schritt in die völlige Verlassenheit von Sinn und Auftrag gehen.“Sofern Wahrheit erhellend ist, müssen wir uns dem Dunkel stellen, weil es den nötigen Kontrast liefert.
Im Folgekapitel entfaltet Sloterdijk eine politische Farbenlehre, die für ihn nichts anderes als eine einzige Vergrauungsgeschichte darstellt. Sloterdijk geißelt das „Funktionsgrau“politischer Parteien, das auch vor dem linken Lager nicht haltmachte und dort zu einer „Rot-Grau-Verschiebung“geführt habe. Interessanter als diese erwartbare Polemik ist Sloterdijks farbentheoretische Meditation im dritten Kapitel. Ausgehend von Ur-Symbolik von Licht und Dunkelheit erinnert er an den Manichäismus, in dem die alte Dualität von Licht und Dunkel erstmals zugunsten des Denkens ihrer Vermischung hinter sich gelassen wurde. „Grau ist die Kompromissfarbe a priori. Wo es sichtbar wird, hatte Weiß Zugeständnisse zu machen und Schwarz musste zugeben, dass es nicht alles für sich haben kann.“Mal entwirft Sloterdijk eine Theorie der Fotografie. Dann wieder flaniert er durch literarische Übergangsgebiete, in denen „das Zwischenräumliche“Konjunktur hat. Unterm Strich bleibt Sloterdijks Exkurs in die Literatur aber der entbehrlichste Teil seiner Grauheitsphilosophie.
Umso mehr bezwingt das Schlusskapitel, in dem er sich mit dem Ausbleiben des Jüngsten Gerichts als finaler Befreiung aus existenziellem Grau beschäftigt und Antworten auf die Abwesenheit beziehungsweise Untätigkeit Gottes sucht. Unbeirrt seiner Grauzonenerkundung folgend, wird er zuletzt Grau einerseits als Mittlerin, als Prinzip einer Gleich-Gültigkeit, würdigen. Und es andererseits als Prinzip der Gleichgültigkeit (im Sinne von Lauheit) vorführen. Gleich-Gültigkeit und Gleichgültigkeit – manchmal vermag ein Gedankenstrich eine ganze Auffassungswelt zu trennen. „Das gewöhnliche laue Selbst“, schreibt Sloterdijk, „strebt eine mittlere Selbstverlorenheit an, mit der sich leben lässt.“Die Standhafteren hingegen erkennen den anhaltenden Reiz, durch „Landschaften gebrochener Helligkeit“zu schreiten.
Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre. Suhrkamp, 288 Seiten