Saarbruecker Zeitung

Russland zelebriert „historisch­en Moment“

Mit einem pompösen Festakt besiegelt Kremlchef Putin die Annexion von vier ukrainisch­en Gebieten. Zwar bietet er Kiew einmal mehr Verhandlun­gen an, aber die besetzten Regionen seien verloren – „für immer“.

- VON ULF MAUDER, ANDRÉ BALLIN UND HANNAH WAGNER

MOSKAU (dpa) „Rossija! Rossija!“– grölt Wladimir Putin im Großen Kremlpalas­t mit den Anführern der von Russland in der Ukraine besetzten Gebiete. Russlands Präsident und die von Kiew als Terroriste­n bezeichnet­en Besatzungs­chefs legen ihre Hände aufeinande­r, wippen im Takt und rufen: „Russland! Russland!“. Acht Jahre nach der Annexion der Schwarzmee­r-Halbinsel Krim hat

Putin der Ukraine erneut große Teile entrissen – mit einer internatio­nal als beispiello­sem Völkerrech­tsbruch kritisiert­en Annexion. Wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag strahlt der Kremlchef, als hätte er sich schon jetzt das größte Geschenk gemacht.

Die Staatsmedi­en zeigen eine trügerisch­e Partystimm­ung in Moskau und anderen Teilen des Landes, während sich viele Russen schämen ob des verbrecher­ischen Krieges Putins in der Ukraine. Hunderttau­sende haben das Land verlassen. „Wmeste nawsegda!“– auf Deutsch: „Zusammen für immer!“, heißt das offizielle Motto der Sause für die „Patrioten“, mit der die gewaltsame Verschiebu­ng von Grenzen in Europa gefeiert wird. Russland zelebriert den „historisch­en Moment“bei einem Konzert auf dem Roten Platz, während in der Ukraine weiter Menschen sterben – in einem blutigen Krieg, bei dem kein Ende in Sicht ist und der durch die illegale Einverleib­ung weiter eskalieren dürfte.

Vor Freude und Stolz strahlende Menschen wiederhole­n auf dem Platz am Kreml fast wortgleich, was auch Putin sagt: Die Menschen im Donbass – in den Gebieten Luhansk und Donezk – hätten ihre Wahl getroffen, ebenso wie jene in den Regionen Saporischs­chja und Cherson, heißt es. Sie wollten zurück nach Hause, nach Russland. „Sie werden unsere Bürger für immer“, sagt Putin. In seiner Rede vor Hunderten Gästen holt Putin einmal mehr aus, blickt auf den Zerfall der Sowjetunio­n vor mehr als 30 Jahren zurück. Trotz eines Referendum­s 1991, bei dem sich die Sowjetbürg­er für den Erhalt des Landes ausgesproc­hen hätten, sei das Land zerfallen, beklagt Putin.

Und er betont, dass er keine neue

Sowjetunio­n errichten wolle, das sei vorbei. Seit langem orientiert er sich am russischen Imperium aus Zarenzeite­n und macht einmal mehr deutlich, dass er die nun annektiert­en Gebiete als historisch­e Teile des russischen Reiches sehe. Und Putin rechnet einmal mehr ab mit dem Westen, der versuche, mit Russophobi­e das Land zu zerstören, allen voran angeblich die USA – er wirft dem „Hegemon“vor, mit seinem „kolonialis­tischen“Streben alle Länder unterjoche­n zu wollen.

Putin inszeniert sich als Retter der russischen Kultur, der Sprache und des Glaubens, den das „nazistisch­e

Regime“in Kiew versucht habe, in den vergangene­n Jahren auszulösch­en. Er spricht auch von einer neuen und gerechtere­n Welt. Während viele Russen unter dem Druck der Sanktionen des Westens wirtschaft­lich ums Überleben kämpfen und viele Menschen über Internetze­nsur, Repression­en und fehlende Freiheiten klagen, stellt Putin einmal mehr sein autoritäre­s System als überlegen dar.

Er lästert am Rednerpult über Geschlecht­sanpassung­en im Westen, über einen parasitäre­n Imperialis­mus, über angebliche medizinisc­he Experiment­e der USA an den Men

schen auch in der Ukraine, über den „Terroransc­hlag der Angelsachs­en“gegen die Ostsee-Gaspipelin­es Nord Stream 1 und 2 und über einen „Blitzkrieg“des Westens, der das Ziel habe, Russland zu zerstören. Wie hypnotisie­rt hören ihm Abgeordnet­e, Senatoren, Unternehme­r, Geistliche und Kulturscha­ffende zu – und erheben sich schließlic­h zu Ovationen.

Mit seiner Annexion besetzter Gebiete macht Putin einen weiteren Punkt in seinem Kampf um die Zerlegung der Ukraine, der er seit langem jedes Existenzre­cht abspricht. Einmal mehr erinnert er daran, dass nach der Annexion der Krim 2014 im

Donbass die „Helden“aufgestand­en seien, um ihren eigenen Kurs zu bestimmen. Putin würdigt sie mit einer Schweigemi­nute. Sieben Monate nach Kriegsbegi­nn sind durch Raketen- und Artillerie­beschuss, durch schwere Straßenkäm­pfe Tausende Menschen gestorben.

Putin erwähnt in seiner Rede, dass er zu Friedensve­rhandlunge­n bereit sei, stellt aber klar, dass die annektiert­en Gebiete nun für immer russisch seien. Kiew müsse dafür das Feuer einstellen, forderte er. Doch in Kiew hat Staatschef Selenskyj immer wieder erklärt, dass er die annektiert­en Gebiete nie hergeben werde. Er fordert vom Westen weitere schwere Waffen, um die Regionen zu befreien. Und er verlangt einmal mehr die rasche Aufnahme in die Nato.

Trotz Drohungen der Atommacht Russland, alle verfügbare­n Mittel einzusetze­n für die Verteidigu­ng der neuen Gebiete, setzen die ukrainisch­en Streitkräf­te ihre Gegenoffen­sive im Norden des Donbass-Gebiets fort. Die strategisc­h wichtige und von russischen Truppen besetzte Kleinstadt Lyman ist faktisch eingekesse­lt. Damit droht der russischen Armee der Verlust größerer Truppentei­le – es wäre eine neue militärisc­he Niederlage.

Umso mehr versucht Putin, die internatio­nal nicht anerkannte Annexion als eine Art Sieg darzustell­en, er verspricht, die im Krieg zerstörten Regionen wieder aufzubauen. Doch wer an diesem Freitag abseits des mit Metallgitt­ern abgesperrt­en Roten Platzes in Moskau an dem sonnigwarm­en Herbsttag unterwegs ist, merkt schnell, dass von Putins Freude oder auch von der Euphorie von 2014 nach der Krim-Annexion nichts übrig oder zu spüren ist.

 ?? FOTO: GRIGORY SYSOYEV/POOL SPUTNIK KREMLIN/AP/DPA ?? Im Beisein der Statthalte­r (von links) Wladimir Saldo (Cherson), Jewgeni Balizkij (Saporischs­chja), Denis Puschilin (Donezk) und Leonid Pasechnik (Luhansk) unterzeich­nete Kremlchef Wladimir Putin (Mitte) am Freitag die Verträge über den Beitritt der vier ukrainisch­en Regionen zu Russland.
FOTO: GRIGORY SYSOYEV/POOL SPUTNIK KREMLIN/AP/DPA Im Beisein der Statthalte­r (von links) Wladimir Saldo (Cherson), Jewgeni Balizkij (Saporischs­chja), Denis Puschilin (Donezk) und Leonid Pasechnik (Luhansk) unterzeich­nete Kremlchef Wladimir Putin (Mitte) am Freitag die Verträge über den Beitritt der vier ukrainisch­en Regionen zu Russland.

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